Lisa Greiderer (12)

Hat jemand die Freiheit gesehen?

Vor langer Zeit lebte auf einem Bauernhof eine kleine Katze. Sie wohnte dort mit ihrer Familie, tollte den ganzen Tag mit ihren Geschwistern herum und war glücklich.

Doch eines Tages hörte sie die anderen Tiere des Bauern darüber sprechen, wie schön doch die wirkliche Freiheit draußen in der weiten Welt sein müsste. An diesem Abend lag die kleine Katze lange wach im warmen Heu und dachte über das Gespräch der Tiere nach. Schließlich fasste sie einen Entschluss.

»Ich werde weglaufen und die Freiheit suchen«, sagte sie zu sich und schon machte sie sich auf den Weg.

Sie spazierte über Wiesen, durchquerte Städte, Wälder und Felder – aber nirgends konnte sie die Freiheit finden.

So beschloss die kleine Katze den alten Eichenbaum mitten in der großen Stadt zu befragen. Schnurstracks tapste sie zu ihm. »Alter Baum«, sagte sie, »bitte erkläre mir doch was ‚frei sein‘ bedeutet und wo ich ‚die Freiheit‘ finden kann!«

Darauf schüttelte der mächtige Baum sein Laub und erwiderte: »Frei sein? Hmm…! Gute Frage. Schau mich an, ich stehe hier mitten in der Stadt, meine Wurzeln sind unter dickem Beton begraben und an meinen Ästen wird das ganze Jahr herumgeschnitten. Ich wäre frei, wenn ich auf einer weiten Wiese stünde, und der Wind den Duft des Waldes durch mein Geäst tragen könnte…«

Das Kätzchen bedankte sich und suchte die größte Wiese in der Umgebung. Stolz stand es inmitten des hohen Grases und ließ den Wind durch sein Fell streichen. Doch dieses Gefühl kannte das Kätzchen doch schon von zu Hause – nein, das konnte doch nicht die Freiheit sein, da musste sich der alte knorrige Baum geirrt haben.

Plötzlich hörte es eine Stimme hinter sich. »Was machst Du da?« fragte jemand. Das Kätzchen drehte sich um und sah einen kleinen grauen Esel vor sich.

»Ich war gerade frei, kleiner Esel«, sagte das Kätzchen voller Stolz.

Doch der Esel erwiderte: »Frei sein heißt doch nicht, hier auf der Wiese zu stehen. Sieh mich an, ich stehe den ganzen Tag mit einem Strick um den Hals hier auf der Wiese. Frei sein wäre für mich ohne diesen Strick durch Wiesen und Wälder dem Sonnenuntergang nachzulaufen.«

Sofort probierte das Kätzchen dies aus, lief der untergehenden Sonne nach und fühlte sich schließlich eigentlich nur müde, aber nicht frei.

So befragte es den Fluss, den Wind, den Frosch, die Ameise – aber jeder hatte eine andere Vorstellung vom Freisein. So war die kleine Katze schließlich müde und hungrig, rollte sich traurig unter einem Busch zusammen und schlief ein.

In dieser Nacht hatte das Kätzchen einen seltsamen Traum.

Es sah sich auf einmal mitten zwischen seinen Eltern und Geschwistern auf dem alten Bauernhof, sah die bekannten Gesichter der anderen Tiere am Hof und hatte das endlich das Gefühl glücklich und FREI zu sein.

Mitten in der Nacht sprang es hoch und lief so schnell es nur ging nach Hause.

Dort wurde es schon freudig erwartet.

»Wo warst du denn bloß so lange?« fragte die Mutter.

»Ich habe die Freiheit gesucht!« erwiderte das Kätzchen.

»Wow, hast Du sie gefunden?« fragte Max, das kleinste Familienmitglied, neugierig.

»Na klar«, lächelte das Kätzchen, »sie ist genau hier. Bei euch. Mit euch und bei euch fühl’ ich mich frei und glücklich!«

In dieser Nacht war die Katzenfamilie noch lange wach, lachte und spielte und das kleine Kätzchen lachte und spielte am wildesten, denn es hatte ja nun endlich ‚seine‘ Freiheit gefunden.

Von diesem Tag an aber wusste das kleine Kätzchen, dass Freiheit wirklich etwas sehr Schönes war. Es wusste aber auch, dass Freiheit für jedes Lebewesen eine andere Bedeutung hatte und dass man die wahre Freiheit in Wirklichkeit nur ganz tief in sich selbst, in seinem eigenen Kopf und Herzen finden kann.