Carina Fraidl (12)

Plötzlich war er weg

»Duck di’, Carina! A Schneeball hinta dir!«

Schnell duckte ich mich, um dem Geschoss auszuweichen, das auf mich gezielt war, und gleichzeitig fasste ich nach Schnee, formte einen riesigen Knödel und warf ihn in Richtung Gegner.

Es war der erste Schnee in diesem Jahr. Er überzuckerte die ganze Landschaft. Es roch förmlich nach Schnee. Und nach Weihnachten, wenn ich die warme Stube betrat, den Tee und die selbstgebackenen Kekse erschnüffelte. Weihnachtsdekorationen, Stofftiere und Weihnachtsbäume schmückten die Auslagen der Geschäfte. In vielen Gassen und Straßen wurden Christbäume verkauft. Ich beobachtete gerne die Hektik und die Stimmung der Menschen. Die Geschäfte füllten sich rasend schnell, es war ein eifriges Kaufen und Verkaufen. Alle freuten sich auf den 24. Dezember.

Ich hatte meine Geschenke schon besorgt: Für meinen Bruder einen kleinen Traktor, für meine Eltern eine Kerze; auch Geschenkpapier musste gekauft sein.

Da ich auf einmal großen Hunger verspürte, bummelte ich auf den Hauptplatz, um mir einige Maroni zu kaufen. Ich wunderte mich, die Köstlichkeiten waren um einiges größer als vor einem Jahr. Ich schlenderte durch die Gassen und naschte von den warmen Dingern. Meine Hände verspürten eine angenehme Wärme. Alle Häuser waren mit Schnee überzuckert. Wie im Märchen oder Film! Plötzlich blieb ich stehen, weil mir etwas sonderbar schien. Ja, genau, dieses Haus war sonst immer grau! Auf einmal war es grün, blau und rot angemalt. Ich wunderte mich über die sonderbaren neuen Farben.

Zu Hause angekommen, setzte ich mich zum warmen Kachelofen und wärmte mich auf. Meine Hände waren ja mittlerweile längst wieder kaltgeworden. Dann bereitete ich alles vor für den großen Tag, auf den alle warteten. Ich packte die Geschenke ein und versteckte sie im Kasten, damit sie nur ja niemand vor der Bescherung öffnen konnte. Ich ging früh ins Bett, damit ich ausgeschlafen sein würde am 24. Dezember. Es dauerte etwas, bis ich einschlafen konnte, denn es ist ja nicht immer am nächsten Tag der Heilige Abend.

Am nächsten Tag klingelte um 6.30 Uhr der Wecker. Ich erschrak. In meiner Aufregung hatte ich am Vorabend vergessen, den Wecker auszuschalten. Ich ärgerte mich, ging aber dann doch in die Küche, um zu frühstücken. Dort richtete ich mir einen Tee und eine Semmel. Meine Eltern wollte ich noch ein wenig schlafen lassen. Plötzlich klingelte das Telefon. Es war Lissy, meine Freundin. Natürlich war meine erste Frage, was los sei, warum sie mich so früh anrufe. Lissy klang sehr hektisch und verwirrt. Sie fragte mich, welches Datum heute sei. Ich war bestürzt. "Lissy! Wie kannst du das vergessen? Heute ist doch der… der Heilige Abend!«

Auf einmal wurde mir komisch im Bauch. Ich musste tief Luft holen, musste mich neben das Telefon setzen. Ich starrte auf den Kalender, der da an der Wand hing. Der Hörer glitt wie von selbst auf die Gabel, ohne dass ich etwas gesagt hatte. Ich starrte noch immer auf den Kalender und fing an hysterisch herumzublättern. Es half nichts. Am Kalender stand 25. Dezember.

Ich holte einen anderen Kalender, ich durchwühlte den Schreibtisch, ich suchte das Kalenderblatt mit dem Datum 24. Dezember. Ich konnte es einfach nicht finden. Es existierte nicht am Kalender, ich fand das Blatt nicht, auf dem »24. Dezember – Heiliger Abend" stand. Ich durchstöberte viele weiße Zettel. Sogar im Papierkorb sah ich nach. Überall standen Zahlen, nur die Zahl 24 war nirgends zu finden.

Noch dachte ich, der Druckerei sei ein Fehler unterlaufen oder meine Freundin sei etwas übernächtig, aber als ich den Computer einschaltete und auch dort nur 25.12. lesen konnte, glaubte ich, verrückt zu werden. Hatte ich den Tag verschlafen? Nein, das konnte nicht sein. Er stand nirgends, er existierte nicht! Es konnte doch nicht einfach ein ganzer Tag verschwinden – und noch dazu der 24. Dezember! Ich verfiel in Panik. Ein Leben ohne Weihnachten konnte ich mir nicht vorstellen. Als dann auch noch unsere Nachbarin an die Tür klopfte und nach dem Fernsehprogramm vom Christtag fragte, war ich vollkommen verwirrt und glaubte, jeden Moment umzufallen.

Ich sah keinen Ausweg und rief noch die Telefonauskunft an. Ich dachte, vielleicht wüssten die, was da los sei. Aber auch die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung wusste keinen Rat für mich. Sie lachte so merkwürdig…

Jetzt musste ich raus, hier herinnen würde mich etwas erdrücken! Ich irrte durch die Straßen. Zufällig kam ich auch in die Gasse, wo das neu gestrichene bunte Haus stand. Aber ich fand es nicht mehr. Wo es gestern noch stand, waren heute nur noch ein paar alte graue Wände zu sehen.

War ich jetzt total verrückt geworden? Wo war das bunte Gebäude geblieben? Wieso wusste niemand, welcher Tag heute war? Wo war Weihnachten, auf das ich mich so gefreut hatte? Wo war der Heilige Abend hin verschwunden? Fragen über Fragen türmten sich in meinem Kopf auf, Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Ich lief und lief, wollte nur noch nach Hause. Ich lief, stolperte, stand auf, lief weiter, stürzte über eine Treppe.

Plötzlich streichelte mir meine Mutter über die Wangen und fragte, was los sei, warum ich so unruhig schliefe, warum ich geschrien hätte. Ich wachte auf, sah meine Mutter neben meinem Bett und spürte, dass nun alles vorbei war.

Ich war unendlich erleichtert und erzählte meinen Eltern beim Frühstück von meinem Alptraum. Wir feierten den Heiligen Abend mit meiner Familie so wie jedes Jahr.