Thomas Flecker (13)

30 Sekunden zu spät

Seit drei Monaten schon befanden sich die Passagiere des kleinen Flugzeuges auf dieser Insel. Die Gruppe war auf dem Flug nach Australien über den Pazifik in einen tropischen Sturm geraten und hatte auf der Insel notlanden müssen. Die Gruppe versuchte unter härtesten Bedingungen, zu überleben, und hatte schon drei Leute verloren. Doch endlich schafften sie es, das Funkgerät des Flugzeuges zu reparieren, indem sie die Kabel neu koppelten und mit einer ausgebauten Kurbel händisch den nötigen Strom erzeugten.

Jetzt schickte eine Fluggesellschaft in Amerika einen Rettungshubschrauber, der sie abholen sollte. In zehn Stunden würde es so weit sein. Jim Sorkan, der nach dem Absturz das Kommando übernommen hatte, schlug vor, sofort zum besprochenen Landeplatz des Helikopters zu gehen und dort zu warten. Sie packten ihre wichtigsten Sachen zusammen und brachen auf. Der Marsch würde zirka fünf Stunden dauern, deshalb füllten sie an einem Bach alle Wasserflaschen.

Sorin Hander stand etwas abseits, als er ein Zischen hörte. Er drehte sich um und sah eine Schlange, die hoch aufgerichtet ihre Giftzähne zeigte. Er erschrak, stolperte rückwärts über seine volle Flasche, fiel auf den Rücken und rutschte auf dem schlammigen Boden den Hang hinunter. Nur wenige Schritte weiter donnerte der Bach über zehn Meter hohe Felsen. Schreiend stürzte er den Wasserfall hinunter.

In der Gruppe herrschte entsetztes Schweigen. Sorkan seufzte: »Verdammt, schon wieder haben wir jemanden verloren. Ich glaube, es ist besser, wenn wir weitergehen.«

Endlich erreichte die Gruppe den verabredeten Platz. Der Hubschrauber sollte in vier Stunden eintreffen.

Sorin Hander lag im Schlamm des Baches. Eine Libelle landete auf seiner Nase. Er musste niesen und kam langsam zu Bewusstsein. Ihm tat alles weh, doch er musste sich zwingen, sich aufzurappeln, wenn er die anderen noch einholen wollte. Er kroch den schlammigen Hang hoch und machte sich auf den Weg.

Beim Rest der Gruppe herrschte Aufregung. In zwei Stunden würde der Helikopter kommen. Alle sammelten Brennholz, um ein Signalfeuer entzünden zu können, denn es dämmerte schon. Wenn sie hier weg wollten, musste der Pilot sie sehen können.

Hander kämpfte sich inzwischen durch das Unterholz. Er wusste nicht genau, ob die Richtung stimmte, doch er musste es schaffen. Seine Lunge brannte wie Feuer, er musste durchhalten! Noch eine Stunde.

Die anderen hatten angefangen, das hohe Gras niederzutrampeln, um dem Hubschrauber ein möglichst problemfreies Landen zu ermöglichen.

Hander sah schon die weite Wiese vor sich, als er die Anhöhe, auf der er sich befand, hinunterrannte. Da plötzlich, ein Knattern in der Luft. Der Hubschrauber kam früher als erwartet.

»Oh, verdammt!« fluchte Hander und legte einen Zahn zu.

Der Helikopter umkreiste die Wiese und setzte zur Landung an. Mit einem Ruck setzte er auf dem Boden auf. Die Rotorblätter wurden langsamer. Die Tür wurde aufgerissen, ein Mann half den Verunglückten an Bord.

Der Wald, durch den Hander rannte, wurde immer lichter. Der Motor wurde lauter, und die Rotorblätter begannen, sich immer schneller zu drehen. Von Panik gepackt, rannte Hander schneller als je zuvor den Hang hinunter. Der Hubschrauber hob ab.

»Nicht!« schrie Hander.

Doch der Helikopter befand sich bereits in zehn Meter Höhe und steuerte auf das Meer zu. Gerade, als der Hubschrauber hinter den Baumkronen verschwand, stolperte Hander aus dem Wald.

Zwei Minuten später stand Hander am Waldrand mit offenem Mund und lauschte dem Motor des Hubschraubers, dessen Brummen immer leiser wurde. Dann ließ er den Kopf hängen und trottete in den Wald zurück. Am liebsten hätte er sich von der nächsten Klippe gestürzt, aber er hatte etwas gegen Selbstmörder und wollte nicht so enden. Also stellte er seinen Rucksack ab, packte seine Sachen wieder aus und sammelte Holz für ein Lagerfeuer.

Er fing ein paar Heuschrecken und briet sie. Die Chance war vertan, er war auf der Insel verschollen. Er würde versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten. Das Dumme war, dass das Flugzeugfunkgerät gerade noch für die lebensrettende Durchsage durchgehalten hatte, fünf Sekunden später war es explodiert.

Er biss von der ersten Heuschrecke ab und legte etwas Holz nach, dann schlüpfte er in seinen zerrissenen Schlafsack und schlief ein. Hander hatte einen seltsamen Traum.

Ein Sturm raste auf die Insel zu. Er kauerte unter einem Baum. Plötzlich fielen ein paar Bäume um und lagen parallel nebeneinander. Lianen hingen daran und flatterten im Wind.

Schweißgebadet wachte Hander auf. Die Sonne schien bereits kräftig vom Himmel. Ächzend stand er auf. Als er sich im Bach wusch, dachte er über den Traum nach. Er hatte ihn auf eine Idee gebracht. Wie wäre es, wenn er ein Floß bauen, einen Sturm abwarten und auf gut Glück davonsegeln würde. War zwar riskant, aber die einzige Lösung. Er zog sich an und ging zurück zum Lager. Er überlegte lange, wie und wo er das Floß bauen sollte.

Endlich hatte er einen Plan und nahm die Säge, die sie unter den Flugzeugtrümmern gefunden hatten. Er suchte einen geradegewachsenen Baum und fällte ihn. Hander entfernte die Äste und die Rinde. Der Baum war perfekt. Sofort machte er sich an den nächsten. Mit Hilfe seines Buschmessers hatte er in zwei Tagen zehn Bäume entästet und entrindet. Mit den vorbereiteten Lianen band er die Stämme in mühsamer Arbeit zusammen.

Zu seinem Glück war der nahe Fluss breit genug und mündete direkt ins Meer. Er schob das Floß an den Flussrand und verstaute seine Lebensmittel unter dem Segel, das aus der äußeren Hülle seines Schlafsackes bestand. Sein Boot war einsatzbereit. Das Problem war nur, dass sich kein Lüftchen regte. Hander wusste jedoch, dass sich das Wetter hier schlagartig ändern konnte, und da es seit Wochen nicht mehr geregnet hatte, stand sicher ein Sturm bevor.

Drei Tage später saß Hander abends am Lagerfeuer und betrachtete unglücklich den sternübersäten Himmel. Das Unwetter ließ auf sich warten. Er löschte das Feuer und schlief ein. Wieder hatte er einen seltsamen Traum.

Er war mit seinem Floß mitten auf dem Meer. Die Baumstämme lösten sich voneinander. Er fiel ins Wasser. Er strampelte und bekam kaum Luft. Plötzlich spürte er, wie etwas Riesiges ihn von unten packte. Ein Maul zerrte ihn unter die Wasseroberfläche und zerriss ihn.

Hander schrak auf. Er spuckte und rang nach Luft. Er lag in einem See! Nein! Es war der Waldboden, auf dem nun etwa zehn Zentimeter hoch Wasser stand. Riesige Tropfen regneten so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Der Wind fegte so stark durch den Wald, dass er sich festhalten musste. Hander rannte zum Fluss. Doch der war so stark angeschwollen, dass das Floß mitgerissen worden war.

In Panik rannte er die Böschung hinab und den Wasserlauf entlang. Sein Herz machte einen Sprung. Das Floß hing an den Ästen eines ins Wasser gestürzten Baumes. Mit einem Hechtsprung landete er an Bord. Keine Sekunde zu früh, denn das Floß riss sich los und raste Richtung Meer. Der Wind zerrte am Segel. Die Wellen wurden immer höher. Eine traf das Floß so stark, dass er über Bord ging. Prustend rang er nach Luft.

Hander brach beinahe in Tränen aus. »Ein Hai! Wie im Traum! Er kommt! Zerreißt mich!«

Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er schrie, bekam den Mund voll Salzwasser, als er von einer Welle in die Höhe gerissen wurde. Im Wellental landete er auf etwas Hartem. Es war sein Floß. Er klammerte sich am Mast fest, sein Floß jagte mit Höllentempo übers Wasser.

Der Sturm wurde immer stärker und dauerte drei Tage, in denen Hander kein Auge zumachte. Als er am Morgen des vierten Tages seine Umgebung wieder richtig wahrnahm, machte er eine verblüffende Entdeckung. In der Ferne sah er einen hellen Streifen, und etwas schimmerte im Morgenlicht. Er erkannte es nicht; aber die Strömung trug ihn direkt darauf zu. Nach weiteren zehn Minuten erkannte er einen Sandstrand, und die Fenster eines Leuchtturmes reflektierten das Sonnenlicht. Er war wirklich auf Festland gestoßen. Hander schwamm die letzten Meter und schleppte sich aus dem Wasser.