Bianca Fadler (12)

Ein Weihnachtsmärchen

Wir befinden uns in irgendeinem kleinen, netten Dorf, das alte Weihnachtstraditionen noch immer pflegt. Das kleine Dörfli lag also tief verschneit im Herzen eines dichten, vollen Tannenwaldes. Es sah alles ganz friedlich aus. Doch wenn du näher hinsiehst, entdeckst du lärmende Kinder mit rot gefrorenen Backen aus der kleinen Kirche strömen. Alle drängeln sich durch das kleine Tor, um das traditionelle Adventkränzchen am Nachmittag des 24. Dezember nicht zu versäumen. Sie lachen und strahlen voller Weihnachtsfreude, während sie zum Pfarrhaus marschieren.

Unter ihnen befindet sich ein schüchterner, etwa siebenjähriger Junge, der scheu in die fröhlichen Gesichter blickt.

»Wie glücklich doch alle sind!« dachte er sehnsüchtig. Er hatte keine Eltern und hatte auch eigentlich keinen Namen. Über seine Vergangenheit wusste er nichts. Der Kleine hätte so gerne ein Zuhause, von einer Familie ganz zu schweigen. Statt dessen lebte er bei der einzigen griesgrämigen Frau des Ortes, Fräulein Horn. Sie trug immer graue Kleidung, hatte eine strenge Stimme und war immer schlechter Laune. Sie hatte Tom nur aufgenommen, da sie Hilfe im Haushalt benötigte.

Als Tom nun verlassen im Schnee stand, sah er bei den Bäumen plötzlich einen kleinen Stern rasch aufblitzen. Er hielt nach Madame Horn Ausschau, rannte aber dann so schnell er konnte in Richtung Wald. Da sah er ihn wieder und lief weiter, bis er sich am dichtesten Punkt des Waldes befand.

Da trat plötzlich eine wunderschöne Frau mit einem weißen goldbestickten Kleid und blonden Löckchen aus dem Nichts hervor! Sie sprach kein Wort, sondern gab Tom ihre Hand. Dieser ließ alles mit sich geschehen, da er solch ein bezauberndes Wesen noch nie gesehen hatte. Plötzlich erhoben sich seine Füße vom Boden. Sie glitten immer höher dem Himmel entgegen, bis schließlich nur noch ein kleiner grüner Punkt zu sehen war.

Tom war fasziniert. Er konnte fliegen. Lächelnd blickte er der schönen Frau zu, die ihn noch immer an der Hand hielt. Plötzlich wurde ihm schwindlig. Er schloss die Augen und spürte nur noch die warme Hand dieser seltsamen Frau. Langsam wurde es wärmer und heller. Tom öffnete wieder seine Augen. Er glaubte zu träumen. Ein atemberaubender Anblick eröffnete sich ihm. Er stand wahrhaftig auf einer flauschigen Wolke. Alles um ihn herum glitzerte, kleine Männer mit weißen Bärten tummelten sich geschäftig und in dem ganzen Trubel saß jemand auf einem großen Polsterstuhl mit roten Kissen. Dieser Jemand kam Tom bekannt vor. Das war doch…

»Der Weihnachtsmann!« schrie Tom erfreut und warf sich dem dicken Mann in rotem Gewand in die Arme. Freudentränen liefen dem Bübchen über das Gesicht. Er begriff erst jetzt: Dieser Engel hatte ihn in den Himmel gebracht.

»Hohoho, nicht so stürmisch junger Mann. Lass mich bitte am Leben. Du darfst für diese Nacht hier oben bei uns bleiben, mein Kleiner.«

Tom schnaufte vor Freude. Dankbar lächelte er dem Weihnachtsmann zu. Nun musterte er ihn etwas genauer. Man hatte ja schließlich nicht jeden Tag die Gelegenheit, einem waschechten Santa Claus zu begegnen.

Neugierig musterte er die gutmütigen Augen und die dazugehörigen buschigen Brauen. Ein breiter, immer lachender Mund und die zahlreichen Falten gehörten auch dazu. Tom nahm sich fest vor, dieses Bild nie zu vergessen! Schließlich bat er den Weihnachtsmann, ihm doch ein Stückchen vom Himmel zu zeigen.

»Das würde ich gerne, mein Söhnchen, aber ich habe noch viel zu tun. Glöckchen soll Dich begleiten, sie kennt sich sehr gut hier aus. Komm' mal rasch her, Glöckchen!« rief er einer kleinen, rosa schillernden Elfe zu. Sofort schwebte das seltsame Geschöpfchen mit den zerbrechlichen Flügeln auf die Beiden zu.

»Zeig’ doch diesem jungen Mann unser Himmelreich. Er darf nur für eine Nacht bleiben. Da weißt ja, wie das Gesetz lautet!« setzte er zwinkernd hinzu.

»Wie lautet es denn?« fragte Tom neugierig.

»Ach, ist nicht wichtig. Komm lieber mit!« flötete die Elfe mit glockenheller Stimme. Tom lief ihr hinterher. Zuerst überquerten sie ein langes, weißes Wolkenkleid. Dazwischen glitzerte etwas Silbriges.

»Das ist die Milchstraße. Probier sie, schmeckt gut!« meinte Glöckchen. Tom kniete auf den Boden und probierte ein Schlückchen dieser Flüssigkeit. Sie schmeckte köstlich. Viel besser als die Milch, die er immer zu Hause bekam. Als er seinen Durst gestillt hatte, wanderten sie weiter. Toms Füße wurden müde.

»Wie weit ist es denn noch?« fragte er keuchend.

»Wenn wir so weitermachen, noch ewig!« jammerte Glöckchen. »Warum seid ihr Erdlinge so umständlich? Eure Beine sind viel zu langsam. Ich werde dir wohl Flügel leihen müssen!« seufzte sie und strich sanft über ihre durchsichtigen Flügel. Ein goldener Staub verteilte sich in der Luft und plötzlich begann etwas auf Toms Rücken zu kribbeln. Kurz danach war alles vorbei.

»So, nun bewege deine Schulterblätter! Mit den Beinen hältst du das Gleichgewicht und du lenkst mit dem Gehirn. Willst du nach rechts steuern, so fliegst du auch nach rechts! Du mußt dich also immer konzentrieren!« erklärte Glöckchen. Nach einigen Abstürzen war Tom geübt. Jetzt ging es schon ganz leicht.

»Und nun volle Kraft voraus!« schrie Glöckchen. Tom sah unter sich die Wolkenfelder vorbeigleiten. Es war ein phantastisches Gefühl! Nach drei Minuten kam ein Gegenflieger. Sie wurden immer mehr und mehr, bis es zu einem Stau am Himmel kam.

»Jetzt nähern wir uns der Werkstatt und der Wunschlistenpost! Da ist immer viel Verkehr!« sagte Glöckchen. Endlich löste sich der Stau auf. Etwas später tauchte vor ihnen ein großes, freundliches Haus auf. Es war mit Weihnachtsgirlanden geschmückt. Strohsterne waren an die Wände geklebt, die großen Fenster waren mit wunderschönen Fensterbildern verziert. Trotzdem sah man in eine große, hell erleuchtete Halle hinein. An den Wänden standen große Schränke und lange Tische. Es herrschte ein gewaltiger Trubel.

»Das ist die Werkstatt! Hier werden eure Weihnachtsgeschenke gebastelt und verschickt!« erklärte Glöckchen stolz. Tom war sehr erstaunt. Er wollte das Gebäude von innen betrachten. Also traten sie ein. Drinnen lief ein Radio mit Weihnachtsmusik. Überall standen bunte Spielsachen. Kleine Männer, Elfen und auch Engel liefen und schwebten durcheinander. Jeder hatte seine Aufgabe zu erledigen.

Der nächste Raum war nur mit Kästchen ausgestattet. Jedes Kind der Erde besaß eines davon. Darin lagen die Wunschlisten und die guten, wie auch die bösen Taten der Kinder. Die Guten wurden mit einem weißen Stern gekennzeichnet, die Schlechten mit einem schwarzen.

Als Tom sein Kästchen öffnete, lagen da drei weiße und ein schwarzer Stern. »Du bist bis jetzt ein sehr braves Kind gewesen, Tom!« sprach eine sanfte Stimme über ihm. Erstaunt drehte er sich um. Hinter ihm stand eine mittelgroße Gestalt mit einem goldenen Kleid, rötlichen Backen und ebenfalls blonden Löckchen. Ein Heiligenschein schwebte über dem Haupt. Tom blickte nun in das Gesicht. So ein Gesicht hatte er noch nie gesehen. Noch nie hatte ihn jemand so angestarrt. Es lag etwas Traumverlorenes in dem Blick der wasserblauen Augen. Irgendetwas Trauriges und Erfreutes zugleich. Trotzdem glaubte Tom, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Irgendwann vielleicht im Traum.

Tom kam hier alles wie im Traum vor. Aber dieser Engel – oder wer immer dieses Wesen war – faszinierte ihn am meisten. Nach langem Schweigen fasste er sich ein Herz und erkundigte sich vorsichtig nach dem Namen dieses Engels.

»Aber Tom, überlege doch mal! Du kennst mich schon sehr lange. Versuche Dich zu erinnern!« sprach dieses Wesen eindringlich. Tom wühlte in seinen Gedanken. Schließlich sprach er zögernd, aber entschlossen: »Du musst das Christkind sein!«

»Gott sei Dank erkennst du mich wieder! Jedes Kind kennt mich, aber nur wenige haben so viel Phantasie wie du! Nur die guten Kinder dürfen für eine Nacht hierbleiben. Wir sehen uns heute sicher noch einmal!« mit diesen Worten löste sich das Christkind in Luft auf.

Tom ging dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf, bis sie in die Schokoladenfabrik eintraten. Tom kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein riesiger Kessel mit einer dicken, braunen Masse stand in der Mitte des Raumes. Das war pure Schokolade! Und obwohl der Kessel ständig entleert wurde, blieb er doch immer voll. Aus dieser Schokolade wurden die schönsten Figuren gegossen. Diese wurden in Regalen aneinandergereiht. Tom glaubte, im Paradies zu sein, und biss einem Schokoschneemann ein Bein ab. Es schmeckte köstlich! Daneben wurden Zuckerstangen, Lakritze und Zuckerl produziert. Es gab Zuckerl in allen Formen und Farben der Welt. Die Bonbons glitzerten teilweise in den schönsten Regenbogenfarben. Die ausgefallensten Zuckerstangen lagen hier tonnenweise herum.

Als Tom diese ganzen Herrlichkeiten sah, dachte er plötzlich an seine Heimat, wo er noch nie etwas Süßes bekommen hatte. Erschrocken rief er: »Madame Horn! Sie wird mich furchtbar ausschimpfen, weil ich so lange weg war!«

»Keine Sorge, wir haben da unten die Zeit angehalten. Aber überzeuge Dich doch selbst!« sprach Glöckchen beruhigend und nahm ihn an der Hand. Sie bahnten sich einen Weg durch die Zwergenmasse. Endlich gelangten sie zum Tor. Tom spannte seine Flügel auf und folgte Glöckchen, die in Windeseile in Richtung Norden flog. Nach etwa zehn Minuten kamen sie keuchend am Ziel an.

Es war die größte Wolke, die Tom bis jetzt gesehen hatte. Am Eingang standen zwei Wachzwerge mit strengen Gesichtern, die unseren beiden Freunden den Weg versperrten. »Halt, hier dürft Ihr nicht weiter!« sprach einer der Wärter. Der andere jedoch sagte nur: »Passwort!«

Glöckchen dachte nur kurz nach und flüsterte dann dem Wärter ins Ohr: »Sternschnuppe!« Dieser nickte und der Weg wurde freigemacht. Es folgte ein langer, schmaler Gang.

»Hör gut zu, Tom. Wir werden gleich auf die Erde runtergehen. Aber du musst flüstern und deine Schuhe ausziehen, wenn wir eintreten, denn dieser Ort ist heilig! Es ist der einzige Platz, von wo aus du in eine andere Welt blicken kannst. Du musst soviel Ehrfurcht erweisen, wie in einer Kirche!« erklärte Glöckchen mit fast tonloser Stimme. Tom nickte nur stumm, da sich vor ihnen ein großes, weißes Tor wölbte. Es glitzerte und glänzte an allen Ecken und war mit Perlen und Edelsteinen besetzt. Kurz, Schätze aus deinen kühnsten Träumen waren hier befestigt. Doch wenn man einen Edelstein berühren wollte, so wich dieser zurück. Es war also unmöglich, einen dieser Schätze zu stehlen.

Tom legte seine Sportschuhe auf eine braune Matte und Glöckchen ihre zierlichen, rosa Sandaletten daneben. Langsam öffnete sich die Tür. Toms Herz begann schneller zu klopfen. Von innen strömte eisige Kälte heraus. Sie befanden sich ja schließlich in einer Wolke.

Tom sah sich um. Er glaubte, sich in der tollsten Kirche zu befinden, die er je gesehen hatte. Prächtig verzierte Engel deuteten auf ein großes Fernrohr, welches anstelle eines Altars dastand. An den Wänden hingen herrlich bunte Bilder. Tom fröstelte.

»Lass uns zum Elysium gehen!« flüsterte Glöckchen. Tom fragte sich, was das Elysium wohl sei. Er wollte jedoch keine dummen Fragen stellen und folgte der Elfe. Jetzt sah er, was diese gemeint hatte. Dieses riesige Fernrohr da drüben nannte man »das Elysium«.

»Schau hinein, ich habe es Dir schon eingestellt oder bist du etwa kurzsichtig?« fragte Glöckchen.

»Ein bisschen schon, aber es wird schon gehen!« antwortete Tom.

»Augenblick, dann stell ich es dir schärfer ein!«

Mit diesen Worten verschwand Glöckchen in einer kleinen Röhre. Kurz darauf kam sie mit rußigen Händen herausspaziert.

»So, nun ist alles fertig!« meinte sie stolz. Nun setzte Tom das Fernrohr an seine Augen. Diese mussten sich erst einmal an die weite Entfernung gewöhnen. Zuerst erkannte er nur einen großen, grünen Fleck. Nun konnte er einzelne Bäume unterscheiden. Schließlich erblickte er sein Dorf. Alles stand still. Der Weihnachtsmann oder das Christkind hatten tatsächlich die Zeit angehalten. Die Menschen standen oder saßen mit offenem Mund wie versteinert da. Eine alte Dame wollte sich gerade Kaffee einschenken und nun hing dieser über der Tasse in der Luft. Tom blickte sich suchend nach Madame Horn um. »Wo war sie nur?« fragte er sich.

»Sie ist auf der Toilette!« flüsterte Glöckchen, da sie Gedanken lesen konnte. Tom lachte laut auf, verstummte jedoch sofort wieder, er durfte ja keinen Lärm verursachen. Hoffentlich hatten ihn die Wächter nicht gehört.

»Lass uns gehen. Unsere Zeit ist schon längst um!« sagte Glöckchen. So standen die Zwei etwas später wieder vor der dicken Wolke.

»Und was jetzt?« fragte Tom gähnend.

»Du gehörst ins Bett!« meine Glöckchen fürsorglich. Schließlich war es schon spät und das Fliegen war anstrengend!

»Lass uns zurückfliegen. Ich zeige Dir, wo du übernachten kannst!« flötete Glöckchen. So geschah es dann auch! Eine halbe Stunde später kamen die Beiden an einem zierlichen, gepflegten Wolkenrosengarten an. Sie befanden sich in einem reizenden Wolkenviertel. »Hier wohne ich!« sagte Glöckchen. Voller Besitzerstolz öffnete sie die Tür. Tom staunte sehr. Alle Gegenstände waren zierlich und klein gearbeitet. Überall glänzte es und fast alles war mit schneeweißen Perlen besetzt. Glöckchen führte Tom über eine kleine Treppe zu einer Türe. Sie öffnete diese zu einem Kämmerchen. Es war niedlich möbliert, das Bett bestand aus Edelsteinen. Eine weiche Matratze und eine kuschelige Decke dienten ebenfalls zum Wohlbefinden. Es gab auch ein Fenster mit bestickten Vorhängen. Im Kamin prasselte ein gemütliches Feuerchen. Auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen Wolkenrosen. Tom fühlte sich wie in einem Palast.

»Lass uns noch kurz hinausgehen, Tom!« bat Glöckchen. »Ich möchte Dir noch den Sternenaufgang zeigen!« Die Beiden setzten sich auf eine kleine Gartenbank. Nicht weit von ihnen erblickte Tom kleine Kinder, denen gerade Sterne auf den Rücken geschnallt wurden. Sie schienen federleicht zu sein, denn auf den Befehl: »Eins, zwei, drei Hoch!« erhoben sich alle rasend schnell in die Lüfte und verteilten sich dort oben.

Eine Weile lang betrachteten sie dieses Schauspiel. Dann gingen sie wieder in das Häuschen hinein. Glöckchen pustete alle Kerzen aus und suchte ihr Nachtlager auf. Tom blickte sich noch glücklich in seinem Reich um. Sein Blick fiel auf den reich gedeckten Tisch. Glöckchen hatte wirklich an alles gedacht! Etwas später legte auch er sich gesättigt zur Ruhe. Tom schlief die ganze Nacht lang durch bis in den Morgen hinein und träumte wunderschöne Dinge, bis ihn die Sonne in der Nase zu kitzeln begann. Das grelle Licht neckte den Jungen mit den Strahlen. Endlich begann Tom sich zu räkeln.

Da kam Glöckchen zur Tür hereingeflattert. »Na, gut geschlafen, Langschäfer?« fragte sie spöttisch und stellte ein volles Tablett auf den Tisch.

»Ich hab’ soooo schön geträumt!« murmelte er wohlgefällig und begab sich zum Frühstückstisch.

»Kein Wunder, hier oben gibt es keine Albträume!« erklärte Glöckchen fröhlich.

»Muss ich denn heute wirklich schon zurück? Hier ist es doch viel schöner!« meinte Tom, während er genießerisch einen Bissen Ambrosia nahm. Auch der Nektar schmeckte ihm vorzüglich.

»Tut mir leid, aber du darfst nicht länger bleiben. So lautet das Gesetz!« meinte Glöckchen seufzend.

»Welches Gesetz? Wovon redest du überhaupt?« fragte Tom neugierig.

»Der Weihnachtsmann wird dich später aufklären. Jetzt hilf nur in der Küche!« Damit war die Sache für Glöckchen erledigt. Aber Tom fragte sich die ganze Zeit: »Was meinten sie alle? Und was war dieses Gesetz?« All das sollte er bald erfahren.

Nachdem Glöckchen und Tom den Abwasch erledigt hatten, bat die Elfe den Jungen, er solle ihr doch noch kurz im Garten helfen. Tom bejahte erfreut und folgte ihr in den wunderschönen Wolkenrosengarten. »Bitte schneide ein paar Rosen ab. Ich muss noch einen Strauß für den Weihnachtsmann binden!« Mit diesen Worten überließ sie Tom seinem Schicksal.

Tom dachte, das seien ganz gewöhnliche Rosen wie zu Hause. Bald merkte er, dass diese ganz schön wählerisch waren. Man musste sie an der richtigen Stelle schneiden, sonst wichen sie zurück, oder man bekam eine spöttische Antwort. Manche musste man kitzeln oder ihnen ein Lied vorsingen, bis sie stillhielten. Bis Tom alle Rosen geschnitten hatte, hatte er schon soviel gesungen, dass er ganz heiser war. Mit krächzender Stimme überreichte er Glöckchen einen stattlichen Strauß.

»Was ist denn mit Deiner Stimme passiert? Oje, ich habe vergessen, Dir zu sagen, dass du nur die braven Rosen hinter dem Haus schneiden kannst! Die Vorderen machen immer einen Aufstand!« erklärte Glöckchen reuig. »Ich werde Dir aber Deine Stimme wiederherstellen lassen. So kannst du nicht mit dem Weihnachtsmann sprechen. Schnell, wir gehen zu Doktor Stimmbruch!«

Es dauerte kaum zehn Minuten, da saßen sie in der Praxis eines weißhaarigen Zwerges. Er stand auf einem Stapel von Büchern, um die Patienten überhaupt zu Gesicht zu bekommen, so klein war er. Als er sich die Geschichte angehört hatte, zog er drei lange Bänder aus seiner Schublade und sprang damit auf Toms Knie.

»Mach’ den Mund weit auf«, ordnete er an. Tom gehorchte. Mit den Bändern bewaffnet kroch der kleine Gnom in Toms Kehle und rumorte dort eine Zeitlang herum. Tom hatte das Gefühl, als ob er einen ganzen Kohlkopf verschluckt hätte. Endlich kam der Doktor wieder heraus. Komischerweise sahen die Bänder, die er jetzt hielt, ziemlich verändert aus. Sie hatten Risse. Tom bedankte sich. Er konnte wieder ungehindert sprechen. Jetzt begriff er auch, Doktor Stimmbruch hatte ihm die Stimmbänder ausgewechselt. So einen wunderlichen Arzt hatte Tom noch nie gesichtet.

Er hätte sich noch gerne etwas länger mit ihm unterhalten, doch Glöckchen drängte zum Aufbruch. Vor dem Haus wollte Tom seine Flügel aufspannen. Irgendetwas funktionierte nicht.

»Deine Zeit ist schon längst um. Ich darf nur 24-Stunden-Flügel verleihen. Aber ich habe eine andere Idee, wie wir dich zum Weihnachtsmann befördern!« sagte sie schelmisch und pfiff ein friedlich grasendes Rentier herbei. Dieses trottete brav auf Tom zu.

»Steig auf und halte dich gut fest!« mit diesen Worten griff Glöckchen nach einer Dorne und stach dem Rentier mit voller Kraft ins Hinterteil. Dieses begann erschrocken wie verrückt zu rennen. Es hatte verstanden, was man von ihm verlangte. Etwas später stand Tom vor dem Stuhl des Weihnachtsmannes. Alle Engel, Zwerge, Elfen und Gnome waren anwesend.

»So, mein Söhnchen, ich hoffe, es hat dir bei uns gefallen. Denn deine Zeit hier oben ist leider zu Ende. Das weißt du ja bereits. Aber was du noch nicht weißt, ist, dass jeder, der wieder auf die Erde muss, seinen größten Wunsch erfüllt bekommt!« Bei diesen Worten teilte sich die Menge und Tom erblickte wieder das Christkind. Aber es kam nicht alleine. Es führte zwei Personen an der Hand.

Tom kamen die Beiden bekannt vor. Der Mann hatte Toms Haarfarbe und die Dame seine Augen. Beiden sahen traurig und müde aus. Die Frau streckte ihre Hand aus und Tom erkannte in ihnen seine verstorbenen Eltern. Er wollte ihnen so viel sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Ringsherum war es still geworden, alles hielt den Atem an.

Tom ging langsam auf seine Mutter zu und ergriff ihre Hand. Sie fühlte sich kalt an. Seine Mutter schloss ihn in ihre Arme und sein Vater streichelte über sein Haar. Lange standen sie so da. Schließlich trat das Christkind aus der Menge zu ihnen und nahm Tom an der Hand.

»Komm, mein Kleiner. Es ist Zeit zu gehen!«

»Aber ich will noch nicht fort von hier!« schluchzte er und drückte sein Gesicht in den Rock seiner Mutter, als wolle er ihn nie wieder loslassen.

»Wir werden über dich wachen, mein Sohn!« sprach sein Vater und seine Mutter streifte ihm eine goldene Kette mit einem Mondstein über den Kopf. Mit diesen Worten verschwanden seine Eltern im Nichts. Aber Tom spürte, dass sie ihr Versprechen halten würden. Da trat der Engel aus der Reihe, welcher ihn schon in den Himmel gebracht hatte. Er nahm ihn an der Hand und sie flogen wieder zurück. Die Wolken wurden immer kleiner und der Wald unter ihnen immer größer. Schließlich spürte Tom wieder festen Boden unter den Füßen.

Der Engel verschwand genauso geheimnisvoll, wie er gekommen war. Tom wanderte zu seinem Dorf zurück. Keiner hatte sein Verschwinden bemerkt. Madame Horn wollte ihn ankeifen, aber es kamen nur nette Worte und Komplimente heraus. Dankbar blickte er zum Himmel, er wusste ja, wer seine Hand im Spiel hatte!