Irene Diwiak (10)

Kleine Schwester Sofia

Das bin ich

Habt ihr auch so eine dumme kleine Schwester? Auch so eine richtig blöde? Naja, oft war es ganz gut, eine kleine Schwester zu haben. Nur leider nicht immer. Aber bevor ich davon berichte, stelle ich mich vor: Ich heiße Sonja Sommer und gehe in die erste Klasse. Ich habe rotbraunes Haar und braune Augen.

Unsere Lehrerin sieht sehr schön aus und ist ganz nett. Sie hat lange schwarze Haare und weinrote Lippen. Fast immer trägt sie Jeans und ein schwarzes Leibchen. Sie heißt mit vollem Namen Maria Pongratz. Meine beste Schulfreundin heißt Doris. Leider muss sie im Rollstuhl sitzen.

Wenn ich an meine Familie denke, dann fällt mir Mama, die Gabriele Sommer heißt, ein. Sie ist Krankenschwester. Mama ist aber nicht so oft zu Hause. Wenn sie nicht da ist, muss unser Papa auf uns aufpassen. Er trägt denn wunderschönen Namen Karl. Wir freuen uns immer ganz riesig, wenn Papa heim kommt. Vor allem, wenn er für uns kocht. Er ist nämlich Oberkoch im Gasthaus »Karl Sommer«, das nach ihm benannt wurde. Dann habe ich auch noch einen Bruder, Hannes, der 15 Jahre alt ist. Was er tagsüber so macht oder wie er seine Freizeit verbringt, kann ich euch leider nicht sagen, denn er geht in ein Internat. Und dann natürlich noch unser kleiner Liebling: Sofia!

Diese vierjährige Nervensäge hat ihren guten Ruf schon deswegen, weil sie immer das liebe Mädchen spielt und die Jüngste ist. Aber nicht nur das Alter macht sie so beliebt, auch das Aussehen spielt eine Rolle.

»Sie sieht wie ein Engelchen aus!« sagen Oma und Opa immer, und Mama sagt das auch. Aber ich finde sie sieht aus wie… eben nicht wie ein Engelchen. Denn Engelchen sehen nicht so kitschig aus wie Sofia. Sie hat lange hellblonde Haare, die meistens zurückgekämmt sind. Dann hat sie noch hellblaue Augen, rosige Wangen und natürlich auch einen Mund. Aber nur einen kleinen Mund, und das ist kein Wunder, denn sie verwendet ihn hauptsächlich für ihr schmalziges Lächeln. Essen und reden tut sie nur sehr wenig. Manchmal ist es auch lustig, sie zu haben, denn wenn es um ein neues Spiel geht oder darum, eine Geschichte zu erfinden, ist sie im Vorteil. So wird es einem nur selten langweilig. Jede Minute ist es anders mit der Sofia. Aber jetzt können endlich die Geschichte beginnen.

Der große Auftritt

»Halli-Hallo!« tönte es aus dem Fernsehen.

Ich machte einen Salto ins Wohnzimmer, und dann auf die Couch. Auf der Couch hatte es sich schon Sofia bequem gemacht. Also saßen wir nebeneinander und starrten auf den Fernseher. Endlich kam ein Mann mit einer grünen Jacke und einem weißen Bart. Kaum war er auf der Bühne, fing er an zu plappern. Aber nur doofes Zeug wie: »Der Kindergarten am Rudiberg wird geschlossen… Ein neues Kino wird eröffnet… und, und, und.« Erst am Ende kam etwas Interessantes. Der Mann räusperte sich und dann sagte er mit einer feierlichen Stimme: » Für alle musikalischen Freunde habe ich einen Tipp! Wir bräuchten noch Kids für den Musikwettbewerb! Ab vier Jahren dürft ihr mitmachen, und ihr könnt auch ‘was gewinnen! Erfindet einfach ein schönes Lied und singt es am 1. Mai in der großen Stadthalle vor.«

Sofia und ich bekamen große Augen. Wir sahen uns schon als große Stars auf der Bühne stehen, die Zuschauer warfen mit roten und rosaroten Rosen und riefen: »Sing noch einmal!« und hinterher: »Du bist der Sieger!« Wir sahen natürlich aus wie Madonna oder Britney Spears.

Erst ein paar Minuten später waren wir wieder aus der Traumwelt zurückgereist. Ich stand sofort auf und lief in die Küche. Dort stand Mama am Herd und kochte gemütlich Nudelsuppe. Ich lief so schwungvoll an ihr vorbei, das der Suppentopf fast umkippte. Dann setzte ich mich an den Tisch. Auf dem lag eine Packung Briefpapier und ein Kugelschreiber. Ich zupfte mir ein Blatt Papier heraus, nahm den Kugelschreiber in die Hand und schrieb einen Text. Denn jedes Lied muss einen Text haben und den muss man schreiben.

Ich zerriss in fünf Minuten acht Papiere. Wenn der Text nicht interessant genug war, konnte ich ja nicht siegen! »Mach mal Pause, Sonja!« meinte Mama, als sie die vielen Papierknödel am Boden sah. »Keine Zeit für Pausen!« keuchte ich. Es war nicht gerade ein Kinderspiel, einen passenden Text zu finden. Es gab tausend Möglichkeiten einen zu schreiben. Für mich war das besonders schwer. Ich geh ja noch nicht gerade lang in die Schule und konnte nicht alle Buchstaben schreiben. Das hieß, dass C, P, Q, EU, SCH, CH, Y, X, Z, IE, EI, ST, SP, Ä, Ö und Ü nicht vorkommen durften.

Weitere fünf Minuten vergingen, in denen ich allerdings nicht nur acht, sondern fünfundzwanzig Papiere zeriss. »Nun ist aber wirklich Schluss!« schrie Mama, die nicht glauben konnte, das sie die ganzen Blätter später wieder aufheben musste. »Ja, ja«, maulte ich, »bin ja schon fertig.« Ohne dass mich Mama darum bat, las ich ihr, so gut ich konnte, vor: »Mond, oh du Mond! La la la la… Ja Mond, ja ja ja! Alle haben den Mond gern. La la la… ja ja ja!«

»Hübsches Gedicht«, meinte Mama.

»Das ist ein Lied!« verbesserte ich.

»Wenn das ein Lied sein soll, braucht es aber eine Melodie.«

»Die mach ich später. Wann gibt’s Suppe?«

Mama servierte Sofia, die gerade herein gekommen war, und mir Schüsseln, die bis zum Rand mit leckerer Suppe voll waren. Ohne ein Wort zu sprechen löffelten wir (Mama, Sofia und ich) unsere Nudelsuppe auf. Danach stand einer nach dem anderen auf. Mich zog es in die Garderobe, die voll war mit Spiegeln, CD-Playern und anderen interessanten Dingen. »Vielleicht fällt mir so eine Melodie für mein Lied ein«, schoss es mir durch den Kopf. Also stellte ich mich vor einen der Spiegel, probierte ein paar Tanzschritte aus und summte dabei ein paar kleine Melodien, genauer gesagt waren es eher hintereinander gesungene Töne. Aber nichts, was zu meinem Lied passen wollte!

Ich gab es auf. Nie würde aus meinem Lied, nein, aus meinem Gedicht ein richtiges Lied werden, oder doch?

Plötzlich hörte ich Stimmen. Gott sei Dank nicht fremde, sondern die von Mama und Sofia. »Ah, endlich öffnet Prinzessin Sofia ihr Maul!« sagte ich wütend zu mir selbst. Ich wusste zwar nicht, warum ich auf einmal böse auf Sofia war, aber das wäre ich sowieso in fünf Minuten geworden. »Du Mama«, sagte sie nämlich, »ich würde so gern bei dem Musikwettbewerb mitmachen. Hilfst du mir bitte beim Schreiben?« Mama bejahte natürlich. Jetzt wurde ich erst richtig sauer. Fräulein Sofia schummelt! Lässt sich den Text einfach aufschreiben und muss keine Rücksicht auf Buchstaben nehmen, die sie noch nicht schreiben kann. Wenn Sofia selber schreiben würde, würde das Lied nur aus ihrem Namen bestehen. »Sofia« konnte sie nämlich schon schreiben.

»Doch Schummeln kann ich schon lange, wenn das überhaupt Schummeln ist«, dachte ich mir, schon ein bisschen lockerer. Text hatte ich zwar schon einen, aber noch keine Melodie. Und Helga, die immer bei uns putzte, die würde mir sicher helfen!

Am späteren Nachmittag waren Mama und Sofia im Kasperltheater. Eigentlich wollte ich ja mit, aber Helga kam meistens dann, wenn keiner zu Hause war, und ich musste sie doch unbedingt fragen, ob sie mir helfen würde! Also blieb ich allein zu Hause. Es war nun schon eine halbe Stunde vergangen, und Mama und Sofia konnten jeden Moment wieder kommen. Aber Helga kam nicht! Ich hörte unten ein Auto parken. Oh nein, das waren Mama und Sofia!

Umsonst zu Hause geblieben! Ich hörte schon die Schritte. Ich hörte auch, das irgendwer versuchte, die Tür aufzusperren. Komisch, wusste Mama denn nicht, dass ich daheim geblieben war? Etwas zögernd öffnete ich die Tür. Und dort stand wirklich Helga und kämpfte mit dem Schlüssel!

»Du bist noch da?« fragte sie verwundert. »Ich bin schon zu groß fürs Kasperltheater.« sagte ich so lässig wie's nur ging.

»Versteh ich. Als ich so alt war wie du, habe ich gerade meine letzte Barbie-Puppe geköpft.«

Helga ist sechzehn Jahre alt. Für den Altersunterschied zwischen uns beiden verstehen wir uns recht gut.

Helga hatte sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt (das tat sie immer, bevor sie zu putzen begann, ich weiß auch nicht wieso) und den Besen in der Hand. Gerade, als sie zu schruppen beginnen wollte, fiel mir noch ein, was ich eigentlich von Helga wollte.

»Helga, schaust du mal kurz mein Lied an? Ich hab noch keine Melodie dafür, und…« Da hatte mir Helga den Zettel schon aus der Hand gerissen. Sie konnte sehr schnell lesen, in zwei Sekunden hatte sie schon alles durch und lachte laut.

»Das soll der Text sein? Das meinst du doch nicht ernst?« Langsam hörte sie wieder auf zu lachen und fragte mich: »Für was brauchst du eigentlich ein Lied?«

Ich wurde knallrot. »Für einen Musik-Wettbewerb.« sagte ich ganz leise und zitternd. Normalerweise zitterte ich nie, wenn ich mit Helga redete. Aber was ist denn noch normal? Jedenfalls fing Helga wieder zu lachen an, knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Mistkübel. Mir tat es ziemlich leid, denn einen so schönen Text würde ich sicher nicht mehr zusammenbringen. Aber wenn Helga es besser wusste…

»Und dafür noch eine popige Musik? Da muss was Besseres her. Am besten Englisch!« Da hatte Helga sich schon das Handtuch vom Kopf gerissen und fing an, ein neues Lied zu schreiben. »Wie wär's, wenn wir unseren Song ‚I, love the Stronger‘ nennen?« Was »I, love the Stronger« eigentlich hieß, fragte ich gar nicht mehr. Den Rest des Liedes schrieb Helga ganz allein. Der war auch in Englisch und ich konnte ihn nicht lesen.

»Fertig!!! Und Melodie ist mir auch gleich eine eingefallen!« Sie summte mir etwas vor, das ziemlich schräg klang. »Vielleicht klingt das nur so komisch, weil Helga so falsch singt!« dachte ich mir und gab deswegen kein Kommentar dazu.

»Nun sing du es mal!« verlangte Helga. Aber ich konnte ja noch kein Englisch lesen! Das sagte ich aber nicht. Ich sang einfach in einer Phantasiesprache. Helga nicke immer mit dem Kopf und murmelte pausenlos: »Sonja braucht unbedingt mehr Mumm. Mehr Mumm.« Das ich gar nicht Englisch sang, schien sie nicht zu merken. Als mein Lied endlich fertig gesungen war, hatte Helga schon wieder ein Kommentar dazu: »Sonja, Liebes, du brauchst mehr Mumm. Aber es sieht dann ja ganz anders aus, mit etwas Tanz und… ja so könnte es klappen…« Ich war geschockt. Tanzen sollte ich auch noch?! Es würde schon eine Ewigkeit dauern, bis ich mal die Hälfte vom Lied könnte und dann sollte ich mir Tanzschritte auch noch merken?

Aber Helga hatte schon recht. Mit Bewegung macht das Ganze ein besseres Bild! Madonna hüpfte auf ihren Videos ja auch immer rum wie ein Känguru. »Gut!« sagte ich entschlossen und verschwand mit Helga im Wohnzimmer. Was wir dort gemacht haben, soll nie jemand erfahren. Helga zeigte mir ein paar Tanzschritte und ich machte sie nach und daraus wurde ein… na ja… ein recht wildes Herumgehüpfe. Danach las Helga mir den Text noch dreimal vor, so, dass ich es mir halbwegs gut merken konnte.

Dann klopfte es wieder an der Tür. Es waren wieder nicht Mama und Sofia. Es war Papa. Als er Helga sah und den vielen Dreck im Zimmer, schrie er: »Scher dich zum Teufel, Helga! Kein bisschen ordentlicher! Scher dich zum Teufel!« Mein Papa konnte sehr wütend werden. Helga nahm ihn nicht ernst. Belustigt rief sie: »Entschuldigung und tschüß!« Da war sie schon aus der Wohnung gelaufen. In der Ecke lag noch ihr Handtuch.

»So darfst du nicht mit Helga reden!« rief ich und wollte, dass es wütend klang, aber es klang dann doch eher ängstlich.

»Und du scher’ dich in dein Zimmer!« schrie Papa so zornig, dass ich ihm nicht wiedersprechen mochte.

Die Zeit bis zum 1. Mai verging schnell. Ich hatte fast gar nicht geübt, da war es schon soweit. »Ich habe extra frei genommen, um meine Lieblinge zu sehen!« posaunte Mama durch das ganze Haus. »Und mein Karlchen auch!« Wenn Mama »mein Karlchen« sagte, meinte sie Papa. Oft hatte sie schon beim Internat angerufen und gebettelt, dass Hannes den einen Tag nach Hause kommen dürfe, nur um den Wettbewerb anzusehen. Aber die Professoren fanden die Schule wichtiger als singende Schwestern und ließen ihn nicht nach Hause fahren.

Trotzdem waren wir alle vergnügt. Als wir im Auto saßen, bekam ich schon Lampenfieber. Wie wird das wohl werden? Vor der Stadthalle waren viele Parkplätze. Vollgeparkte Parkplätze. Kein Loch war mehr frei. »So ein Käse!« schimpfte Mama, als wir in Richtung Almpark fuhren, um dort einen Parkplatz zu suchen. Ich hatte ein festlich weißes Kleid an und eine rosa Schleife im Haar. Natürlich schaute es nett aus, aber zu einem Lied, das »I, love the Stronger« heißt, passte es nicht so ganz.

Endlich hatten wir, recht weit von der Stadthalle entfernt, einen Parkplatz, oder besser gesagt ein Loch zwischen zwei Autos entdeckt. Kaum waren Sofia und ich aus dem Auto gestiegen, hörten wir Mama schon wieder jammern: »Ach, herrje! Die weißen Kleider! Passt gut auf die weißen Kleider auf! Sonja, du Tollpatscherl, soll ich dich nicht lieber tragen?«

Ich wollte nicht getragen werden. So stapften wir dahin. Endlich waren wir bei der Stadthalle angekommen. Im Haus gab es ein furchtbares Gedrängel.

»Hallo, hier bin ich!« hörte ich eine Stimme hinter mir rufen. Ich drehte mich um. Da stand Helga, mit einer dicken Einkaufstasche in der Hand.

»Komm, wir verschwinden zum WC, du musst dich noch umziehen!« flüsterte sie mir ins Ohr. Und wir verschwanden auch, bloß nicht in der Damentoilette. Die Damen hatten anscheinend alle zu gleich volle Blasen. Auch im Herrenklo konnte man nicht gut verschwinden. Aber am Behindertenklo. Kein Mensch war dort.

»Hier geht’s!« meinte Helga zufrieden, als ich sie darauf aufmerksam machte. Es gab dort natürlich auch einen Spiegel. Vor den musste ich mich stellen.

»Ah, das dürfte zu dir passen!« murmelte Helga immer wieder, während sie mich von allen Seiten betrachtete. Dann holte sie Schminkfarben aus der Einkaufstasche.

»Auf blau oder rot?« fragte sie, ließ mich aber nicht antworten. Helga konnte schnell schminken. Plötzlich hatte ich ein knallrotes Gesicht, woher ich schloss, dass Helga auf rot geschminkt hatte.

»Ja, das steht dir!« meinte sie, als sie fertig war. »Jetzt kommt das Kostüm!« Helga zog ein rotes Minikleid aus der Tasche, die plötzlich sehr klein wirkte. Das Minikleid hatte Spaghettiärmel und einen Ausschnitt für den Busen. »Da stecken wir einfach Klopapierrollen rein!« sagte Helga entzückt. Nun kam die Frisur dran. Auch im Frisieren war Helga schnell. Ich selber fand mich nun furchtbar hübsch. Ich hatte drei glitzernde Zöpfe am Kopf und Helga besprühte mich weiterhin mit Glitter.

Ich dachte mir noch kurz den Text und die Tanzschritte durch, aber da rief Helga schon: »So, jetzt beginnt das Aufwärmen! Ich habe dich schon angemeldet, Sonja! Wenn die dicke alte Frau am Eingang fragt, wie du heißt, sage ‚Sunny‘. Unter dem Namen habe ich dich nämlich gemeldet.« Ich war etwas zornig. Ich wollte nicht »Sunny« heißen! Aber ich sagte nichts. Den Weg zum Probenraum, wo wir uns aufwärmten, fand ich schnell. Erstens, weil ich schon oft da war, zweitens, weil sich alle Kinder dort drängten. Eine dicke alte Frau stand nicht in der Tür. Dafür aber eine schlanke junge mit grünen Haaren. Und wirklich, sie fragte mich wie ich hieße! Fast hätte ich mit »Sonja« geantwortet. Aber gerade noch fiel mir ein, dass ich »Sunny« sagen musste. Und deswegen sagte ich auch: »Sunny!« Die Frau mit den grünen Haaren nahm eine Liste aus der Hosentasche, studierte sie kurz und ließ mich erst dann ins Zimmer.

Die anderen Kinder (es waren hauptsächlich Mädchen) standen schon in einem Kreis. Sofia auch. Und auch, oh du heiliger Bananenstrudel, Jasmin! Diese Jasmin war noch schrecklicher als Sofia (wenn das überhaupt ging).

Gott sei Dank hatte mich Helga so stark geschminkt, dass Jasmin mich nicht erkennen konnte. Sofia auch nicht. Ich stellte mich neben ein Mädchen mit Brille und einen mageren Jungen.

Gerade kam die Frau mit den grünen Haaren herein. »Kinder, ich bin Ella Warbest und habe das Ganze hier organisiert! Ich erwarte Höflichkeit und Anstand! So, sie wird sich mit euch aufwärmen!« sagte die Frau mit den grünen Haaren, diese Ella Warbest, und deutete mit ihrem Blick auf ein blondes Mädchen. Dann ging sie hinaus. Das blonde Mädchen war ungefähr so alt wie Helga. Aber das Mädchen war blond und sah ruhiger aus und gar nicht wie Helga. Dieses Mädchen hatte einen Ball unterm Arm. Es erklärte: »Ich sage meinen Namen, dann schieße ich jemandem den Ball zu. Der, der ihn fängt, sagt seinen Namen und schießt wieder weiter, O.K.?« Alle nickten. Das Mädchen nahm den Ball, sagte: »Barbara!« und schoss ihn weiter. Dabei merkte ich, dass das Mädchen neben mir Stephanie und der Junge neben mir Gerald hießen. Das selbe machten wir auch mit dem Alter. Und ich hatte richtig geraten. Barbara war genau sechzehn Jahre alt.

Als der Ball bei Sofia landete und diese ihr Alter angab, war Barbara entzückt.

»So junge Sänger haben wir, so junge Sänger!« murmelte sie immer wieder. Plötzlich kam diese Ella Warbest, die Frau mit den grünen Haaren, herein und rief: »In 5 Minuten beginnt es!« Frau Warbest drückte Barbara einen Stoß mit Zetteln in die Hand. Dann ging sie wieder. Barbara blickte kurz auf den Stoß und rief dann: »Kinder, hört mal kurz her! Jeder bekommt so einen Zettel. Da steht oben, wann ihr dran kommt. Aber Frau Warbest wird euch eh aufrufen.«

Barbara gab jedem so ein Papier. Ich war die Vorvorletzte. Das fand ich gar nicht so schlecht, da hatte ich noch viel Zeit, mich auf den großen Auftritt vorzubereiten. Plötzlich huschte jemand an mir vorbei. Es war Sofia! »Hallo Sofia!« rief ich und wünschte nachher, es nicht getan zu haben. »Hallo Sonja!« sagte Sofia leise. Trotzdem hatte es diese verflixte Jasmin gehört. »Ah, die Sonja Sommer! Du glaubst noch an den Gewinn?« fragte sie triumphierend. Am liebsten hätte ich ihr Eine drüber gehaut, aber da kam schon Barbara und rief: »Los geht’s!«

Brav folgten wir ihr zur Bühne. Auf dieser standen Bänke. Dort durften wir uns niederlassen. Blöderweise saß ich zwischen Jasmin und Sofia.

»Hast du Lampenfieber?« fragte Sofia zu mir herauf. Ich gab ihr nur einen Stoß. Plötzlich lief diese Ella Warbest auf die Bühne. Sie hatte sich in den fünf Minuten einen Kittel angezogen, der sie jünger und freundlicher aussehen ließ.

»Liebe Leute!« begrüßte sie das Publikum. »Wie Sie wissen, werden die Kids heute singen! Ich bitte um Aufmerksamkeit und wünsche viel Spaß!« Das erste Kind stand auf und ließ sich von Ella Warbest das Mikrofon in die Hand drücken. Im Publikum stand eine Frau auf und setzte sich an das Klavier, das dort in der Mitte des Raumes stand. So ging das immer weiter. Mir wurde bange. Alle Kinder, sogar Sofia, wurden von einem Elternteil am Klavier begleitet. Und niemand tanzte!

Zwischen den Liedern kam Frau Warbest immer auf die Bühne und sagte den Namen der Kinder, die als nächstes singen würden. »Sofia Sommer« sagte sie ziemlich am Anfang. Sofia sang recht nett. Mama klimperte auch recht nett am Klavier.

»Ich bin besser, ich bin besser!« dachte ich krampfhaft. Dann wurde Jasmin aufgerufen. Gleich zwei Frauen mit Turmfrisuren (Jasmins Mama und Jasmins Oma) eilten zum Klavier. Jasmin sang ein Lied, wobei das ganze Publikum weinen musste. Dann war eine lange Pause, in der nur die fremden Kinder sangen. Auf einmal rief die Stimme von Ella Warbest: »Sunny!« Oh nein, das war ich! Zögernd ging ich nach vorne. Da sprang jemand aus dem Publikum auf. Es war Helga! Unter dem Arm hielt sie ein… ein Keyboard! Plötzlich sah ich Doris. Sie saß auch im Publikum und hatte eine Plastikrose in der Hand. »Sonja ist die Beste!« stand auf dem Zettelchen, das um den Stängel gewickelt war. »So Sonja, jetzt zeigen’s wir denen!« flüsterte sie, während sie das Keyboard aufstellte. Ich nickte. Bloß nicht aufgeben!

Helga spielte ein kleines Vorspiel, dann ging es los. Ich sang und ich tanzte und war völlig erschöpft, als ich mich endlich wieder auf der Bank niederlassen konnte. Doris’ Rose war noch nicht gefallen. »Super!« flüsterte Sofia mir ins Ohr. Ich gab ihr wieder nur einen Stoß. Die letzten zwei sangen. Nun kam Frau Warbest wieder auf die Bühne. In Begleitung von Barbara. »Die Regie hat entschieden!« sagte Ella Warbest würdevoll. »Es gibt drei Plätze, und die dazu gehörenden Preise! Nun, den dritten Platz machte Stephanie mit dem eigenartigen Song 'Niemand weiß, dass ich Stephanie heiß!' Gratulation!« Das Mädchen, neben dem ich im Kreis gestanden war, sprang auf und ließ sich den Preis, einen rosa Regenschirm, überreichen.

»Einen rosa Regenschirm brauch’ ich sowieso nicht«, dachte ich mir und hoffte auf den zweiten Platz. Frau Warbest kündigte nun an: »Den zweiten Platz erhält einer unserer wenigen Jungen. Und zwar… Gerald mit dem Lied 'Ich ehre meine Mutter!' Super!« Gerald, der neben mir gestanden war, holte aufgeregt seinen Preis bei Barbara ab. Ein riesengroßer Stoffhund. Nun war ich happy. Jetzt war wohl klar, wer den ersten Platz machen würde: Ich! Das ist doch selbstverständlich, oder? Aber ich hätte diesem Gerald auch keinen Preis gegeben, weil er das Lied sicherlich nicht selbst geschrieben hatte! Ich war mir aber ganz sicher, dass nur noch ich für den ersten Platz in Frage kam.

»Der Preis für den ersten Platz ist eine Reise nach Disneyland-Paris! Und den bekommt ein Mädchen. Namens…« sagte Ella Warbest. Sicher war es ich! Ich musste es sein! Nun beendete Frau Warbest ihren Satz: »…Jasmin! Mit dem ‚Lied für Teddy‘!« Jasmin sprang von der Bank, während ich von der Bank fiel.

»Danke sehr, danke sehr!« quietschte Jasmin immer wieder, während sie sich den Riesengutschein überreichen ließ. Ich hatte mich schon wieder erholt, als Barbara rief (weil man sie sonst nicht verstanden hätte): »Es gibt aber noch einen kleinen Preis für die jüngste Teilnehmerin. Das währe: Sofia Sommer! Komm nach vorne!« Schüchtern trippelte Sofia zu Barbara und Ella Warbest. Barbara gab Sofia einen Sack mit Süßigkeiten, während Frau Warbest murmelte (und sich dabei wie Barbara anhörte): »So junge Sänger haben wir, so junge Sänger!«

Ich spürte Wut in meinem Bauch. Weniger auf Jasmin, mehr auf Helga. Sie hatte mich so bescheuert hergerichtet und den doofen Text geschrieben! Ich spürte aber auch Wut auf Sofia. Konnte ich was dafür, dass ich schon fast sieben Jahre alt war und nicht vier?! Meine Eltern ließen sich noch Zeit. Sie gratulierten Sofia und der schrecklichen Jasmin und tranken dann noch ein Schnäpschen und unterhielten sich mit Ella Warbest. Ich hatte genug Zeit, mir noch das weiße Kleid anzuziehen. Es lag immer noch immer im Behindertenklo.

Diesmal war ich nur anfangs alleine. Ich war gerade in Unterhosen, als Doris hereingeschoben wurde. Ihre Mutter sah mich gar nicht. Sie setzte Doris aufs Klo und rief: »Ich trink nur noch schnell ein Glas Sekt, dann hole ich dich wieder!« Damit verschwand sie. »Hallo Doris!« rief ich. Doris erkannte mich sofort an der Stimme. »Hallo Sonja!« rief sie. Ich hatte mir inzwischen das weiße Kleid übergezogen.

»Du Sonja, könntest du mir bitte helfen? Ich mag nicht auf meine Mama warten!« bat Doris. Und ich konnte ihr helfen. Ich hatte ihr schon oft auf das Klo und wieder herunter geholfen. Als sie wieder in ihrem Rollstuhl saß und mir beim Abschminken zusah, fragte sie mich: »Hast du nicht mitgesungen?«

»Doch, doch!« antwortete ich beruhigend. »Ich war bloß als ‚Sunny‘ angemeldet, und hergerichtet wie ein Depp…«

»Und getanzt hast’ wie ein Depp…«, ergänzte Doris. »Ach ja, das wollte ich dir geben!« meinte Doris nach einer kleinen Pause. Sie überreichte mir die Rose. Wäre ich jetzt in einem Drama-Film gewesen, hätte ich zu heulen angefangen und gesagt, dass ich das Geschenk nicht annehmen kann. Aber ich war ja in keinem!

Mit der Rose im Arm stapfte ich hinter den anderen her. Ich hatte immer noch etwas Wut im Bauch. Zu Hause kochte Papa ein Festessen. »Nudeltopf a la Sofia« wollte er machen. Obwohl Papa ein Meisterkoch war, der »Nudeltopf alla Sofia« schmeckte eklig. Auch Sofia schien es nicht zu schmecken. Sie machte sich gleich über die Süßigkeiten her. Nun wurde die Wut wieder größer. Sie naschte vor meiner Nase Süßigkeiten und ich hatte nicht einmal welche!

»Magst?« hörte ich Sofia neben mir fragen. Natürlich mochte ich Süßigkeiten! »Friss Sofia nicht alles weg!« schimpfte Mama. Sofia hätte gut ein Viertel erwischen können, hätte sie etwas schneller gegessen! Auch auf Helga war ich nicht mehr böse. Sie hatte mich schließlich angemeldet. Viele Kinder mussten wieder nach Hause gehen, weil es schon zu viele Anmeldungen gegeben hatte. Einen Moment war ich mit der ganzen Welt zufrieden, und hoffte, dass es immer so bleiben würde!

 

Das sind wir Kinder (wenn wir frei wären!)

Denkt nach: Sind wir Kinder frei?
Nein, doch Mama ist das einerlei.
Bei allem, was man haben will,
sagt sie (mit Papa): »Kostet zu viel!«
Aber nicht nur Eltern sind so,
nein, muss ich im Unterricht aufs Klo,
schreit der Lehrer mich an,
ob ich nicht mehr warten kann.
Wären wir Kinder frei,
gäb’ es keine Schererei.

Doch wären wir ganz freie Leute
sähen wir wohl so aus heute:
Ungekämmt und unfrisiert,
mit Schokolade angeschmiert,
täten stinken wie ein Schwein,
täten dumme Leute sein,
wir wären dick
und gar nicht schick,
würden weder rechnen, schreiben, lesen,
noch sprechen wie normale Wesen.

Denkt nur, was für ’ne Sauerei,
doch trotzdem wär’ ich lieber frei!