Theodora Bauer (12)

Die Blade

Nicky war vor einer halben Stunde aufgewacht, hatte schon geduscht und aß gerade ihr Frühstück.

»Na, Nicole, freust du dich auf den ersten richtigen Schultag in der dritten Klasse?« fragte ihre Mutter.

Schweigen.

In den Ferien hatte Nicky so übermütig und fröhlich gewirkt, und jetzt, wo ihre Mutter die Schule angesprochen hatte, wurde sie plötzlich betrübt. Was war nur los?

Stumm nahm Nicky ihre Schultasche und ging in die Schule.

»Ha, ha, die Blade ist wieder da, ha, ha, ha!« grölte Thomas, der ärgste Schreihals der Klasse.

Die Blade setzte sich auf ihren Platz und sagte nichts, sie war solche Komplimente gewohnt.

Nach der ersten Stunde kam die Tussi-Clique, um die Blade zu ärgern. Selina, ihre Anführerin, sagte: »Schaut euch mal ihre Klamotten an! Bestimmt sind die vom Secondhandladen.«

Dabei war Nicky erst gestern einkaufen gewesen und hatte diese vermeintlich todschicken Klamotten bei H&M gekauft. Sie verbiss sich die Tränen. Die Blade schaffte es, weil sie ganz fest an ihren Lieblingslehrer, Herrn Gruber, den sie nächste Stunde haben sollte, dachte. Sie mochte Herrn Gruber so gerne, weil er noch nie etwas Gemeines zu ihr gesagt hatte und mit ihr immer ganz einfühlsam umging.

Da kam auch schon Herr Gruber zur Tür herein und begann, von den Griechen zu erzählen. Doch mitten in den Perserkriegen brach unter der Bladen plötzlich der Sessel zusammen, und sie fand sich auf dem Boden sitzend wieder.

Die ganze Klasse grölte vor Lachen, einschließlich Herrn Gruber. Dieser sagte dann schmunzelnd: »Ein bisschen Abnehmen täte dir ganz gut.«

Was für ein Schock! Der nette Herr Gruber auch noch! Jetzt hatte sie in der Klasse gar keine Verbündeten mehr. So schnell sie konnte, rannte sie aus ihrer Klasse, nur fort von ihrer Traurigkeit.

Nickys Mutter wäre gar nicht aufgefallen, dass Nicky nicht zum Mittagessen zu Hause war, sie konnte es ja auch nicht merken, da sie bis zehn Uhr abends zu arbeiten hatte und sich nicht um Nicky kümmern konnte. (So musste sich Nicky immer selbst verpflegen, was soviel hieß, dass sie wahllos in sich hineinstopfte, was sie im Kühlschrank fand.)

Aber heute war Nicky nicht zu Hause beim Kühlschrank. Nein, sie saß schon geschlagene zwei Stunden auf einer Bank vor der Apotheke und überlegte, ob sie ihr neuerworbenes Schlankkeitsmittel nun nehmen sollte oder nicht. Da kam Zehra, ein Mädchen aus Nickys Klasse, um die Ecke. Zehra war auch nicht viel beliebter in der Klasse als Nicky, außer dass sie nicht von allen »Blade« genannt wurde.

Als sie die Schlankheitspillen sah, riss sie Nicky das Päckchen aus den Händen und sagte: »Das gefährlich!« Nicky wollte die Pillenpackung wieder schnappen, aber Zehra zog schnell ihre Hand zurück und schleuderte das Schächtelchen treffsicher in die Mülltonne auf der anderen Straßenseite.

Nicky jammerte:«Du hast mir soeben meine schlanke Zukunft genommen!«

Dann schauten sich die beiden an und prusteten ganz plötzlich los, wobei keine genau wusste, warum.

Da fragte Zehra: »Wir Freundinnen?« und hielt Nicky die Hand hin.

»Ja«, sagte Nicky lächelnd und drückte Zehras Hand.