Theodora Bauer (11)
Die traurige Geschichte vom kleinen Skalar
»Mama, Papa, sollten wir uns nicht einmal ein größeres Aquarium kaufen? Unseres ist zu klein, deswegen veralgt es immer so schnell!« sagte ich. Meine Eltern meinten, es sei einen Versuch wert. Also kauften wir ein wunderschönes, großes Eckaquarium für unser Wohnzimmer. Als das Wasser eingelassen war und die Pflanzen gesetzt waren, setzte sich meine Mutter mit einem Sessel vor das Aquarium und seufzte: »Ahh, wie ist das doch beruhigend, hier zu sitzen und ins Aquarium zu schauen! Wie hübsch das erst sein wird, wenn in drei Wochen das Wasser so weit aufbereitet ist, dass wir Fische einsetzen können!« Und dann verfiel sie ins Lehrerhafte: »Aber ein Aquarium ist mehr als eine gefällige Fernsehleuchte. Man kann an einem Aquarium lernen, wie eine geschlossene Biosphäre funktioniert. Wenns klappt und man alles richtig gemacht hat, fühlt man sich wie der Herrscher über ein kleines Universum.«
Nüchtern fuhr mein Vater fort: »Und wenns nicht klappt, gibt es wieder Algensuppe. Wir wollen hoffen, dass wir mit dem größeren Aquarium mehr Glück haben als mit unserem alten.«
Nach drei Wochen übersiedelten wir unseren Altbestand an Fischen ins neue Eckaquarium und gingen einige neue Fische dazukaufen. Unter anderem erwarben wir zwei Skalare, einen kleinen dummen und einen größeren, etwas gescheiteren (falls man das von Fischen überhaupt sagen kann). Die beiden wurden sofort beste Freunde und erkundeten ihr neues Zuhause zusammen.
Aber einmal hatte der kleine Skalar die unselige Idee, ein Stück Hornkraut zu verkosten, welches ihm im Schlund steckenblieb und seine Kiefer krampfhaft auseinanderzwang. Mit weit geöffnetem Maul schwamm der kleine Fisch herum und versuchte vergeblich, das Stück Hornkraut auszuspeien. Da musste Vater helfend mit der Pinzette einschreiten. Nach der Pinzettenbehandlung schien es dem Fisch gut zu gehen, er sah nur etwas verwundert aus. Bald konnte er wieder Futter schlucken und schwamm mit seinem größeren Kollegen würdevoll einher.
Dann, nach einem Monat, war er auf einmal spurlos verschwunden, und da ich den Fisch auch später nicht mehr sah, war ich mir sicher, dass er tot war. Der große Skalar jedoch suchte im ganzen Aquarium nach dem kleinen Fisch. Er hatte zwar genug Futter und die Gesellschaft der anderen Fische und hätte eigentlich stolz sein können, wo er doch jetzt der größte Fisch im Aquarium war. Aber mir schien, als ob er mit seinem kleinen Freund glücklicher gewesen wäre.
Eines Tages, als wir das Aquarium putzten, entdeckten wir die vertrocknete Leiche des kleinen Skalars auf der Zwischenabdeckung. Offensichtlich war er beim Futterloch herausgesprungen. Wieso er das wohl gemacht hatte? Aus Gier nach Futter? Oder war es ein Fluchtversuch aus der Gefangenschaft gewesen?
Da fragte ich meinen Vater: »Du, Papa, meinst du, die Fische , die wir da drin eingesperrt halten,« und deutete auf das neue Aquarium, »meinst du, die sind glücklich?«
Worauf dieser antwortete: »Ich denke schon. Es ist ihnen ja nicht bewusst, dass sie Gefangene sind.«
»Also glaubst du, die Fische sind glücklich im Aquarium, solange sie Futter haben?«, fragte ich weiter.
Papa sagte: » Dori, was wäre denn dir lieber, ein Leben in totaler Freiheit, harter Existenzkampf, Hunger und Risiko eingeschlossen, oder ein Leben in eingeschränkter Freiheit, aber dafür satt und im Wohlstand? Immerhin haben die Fische in unserem Aquarium keine Fressfeinde, die sie bedrohen, sie leben zwar hinter Glaswänden, aber sie haben ihr tägliches Brot, wenn du es so willst.«
»Du meinst, wir haben einen gottähnlichen Status für sie, weil wir ihnen Futter geben? Dabei sind wir doch alles andere als gottgleich! Wir sind den Aquarienfischen weit ähnlicher. Einige von uns sind schon glücklich, wenn sie etwas zu essen und ein Heim haben. Aber andere wollen mehr. Sie wollen wissen, was es sonst noch gibt außer den Dingen in ihren eigenen vier Wänden. Sie wollen über die Hintergründe etwas erfahren, sie suchen das Abenteuer. Die Neugier siegt. Das unterscheidet uns Menschen von den Tieren. Stimmts?«
Papa meinte: »Mmh. So etwas nennt man den freien Willen, Dori. Im Unterschied zu einem Aquarienbesitzer, der Fische in ein Glasgefäß sperrt, lässt Gott uns selber entscheiden, was wir tun, wie wir es tun, wann wir es tun und warum wir es tun. Tiere können über diese Dinge nicht frei entscheiden, sie sind von ihrem Instinkt gelenkt.« Wir machten uns nachdenklich wieder an die Arbeit.
Wieso der kleine Skalar aus dem Aquarium gesprungen war, würde wohl für immer ein Rätsel bleiben. Aber da unser großer Skalar gar so verzweifelt nach seinem verblichenen Artgenossen suchte, beschlossen wir, ihm bei Gelegenheit einen neuen Skalarfreund zu kaufen, denn Einsamkeit ist ärger als Gefangenschaft.