Anna-Maria Bauer (13)

Petras Traumwelt

Petra saß vor ihren Aufgaben, den Kopf auf die Hände gestützt und starrte auf die weiße Wand vor ihr. Dabei nahm sie die Wand vor ihr gar nicht wahr. Sie nahm nichts um sich herum war. Petra war wieder einmal in ihrer Traumwelt.

Petra galoppierte auf einem Schimmel – dessen Farbe weiß wie Mondlicht war und von dessen Augen man sich nicht mehr losreißen konnte, wenn man sie erst einmal angesehen hatte – über endlose Wiesen und durch kleine Wäldchen. Sie sprang über Gräben und Bäche und fühlte sich frei! Einfach frei! Das Haar flatterte mit der Mähne des Pferdes um die Wette, die Hufe des Tieres schienen den Boden fast nicht zu berühren; eher flog es nur so davon.

»PETRA!« rief ihre Mutter entnervt. »Bist du noch immer noch mit deinen Aufgaben fertig? In einer halben Stunde kommen unsere Gäste, das weißt du ganz genau!«

Petra sah ihre Mutter wie durch einen Schleier an, sie musste sich erst wieder in der realen Welt zurechtfinden. Langsam verblasste der Schimmel und Petra fiel unsanft wieder auf ihren Sessel vor dem Schreibtisch.

»…Und du musst dich noch waschen, wie siehst du denn aus? Hast du heute wieder gerauft? Jetzt schreib endlich weiter und wehe du bist nicht fertig, wenn ich das nächste Mal hereinkomme!« Damit verließ Frau Kube das Zimmer ihrer Tochter.

Unglücklich beugte sich Petra über ihr Aufgabenheft. Sie fühlte sich so eingesperrt von ihrer Mutter. Du darfst dies nicht und du darfst das nicht! Wehe du bist nicht vernünftig… Nie durfte Petra etwas machen, das ihr gefiel. Das war auch der Grund warum Petra sich immer öfters in ihre Traumwelt flüchtete. Dort war sie frei, dort durfte sie machen, was sie wollte. Dort gab es keine Regeln. Dort wurde sie gemocht und zwar weil sie so war wie sie nun einmal war und nicht, weil sie vernünftig und ordentlich war. Am liebsten würde Petra gar nicht mehr in die wirkliche Welt zurück kommen.

Es war acht Uhr und Petra saß in der Schule. In der Nacht hatte sie einen wunderbaren Traum gehabt. Sie war wieder in ihrer Traumwelt gewesen. Ein Freund von ihr hatte ein Fest gegeben und sie hatten bis spät in die Nacht gefeiert. Petra war glücklich gewesen, hatte getanzt und gesungen und bei Morgendämmerung zurück in ihr kleines Häuschen am Waldesrand zurückgekehrt. Aber Petra war sich gar nicht sicher ob sie das wirklich nur geträumt hatte, denn sie fühlte sich müde und ausgelaugt, so als hätte sie zu wenig geschlafen. Seit Petras Vater gestorben war und ihre Mutter sehr viel ernster geworden war, träumte sie von dieser anderen Welt.

»Guten Morgen, Kinder«, die Deutschlehrerin kam herein und alle Kinder erhoben sich.

»Du Petra«, flüsterte Petras einzige Freundin, Rita, mit der sie sich auch nicht immer verstand. »Ich war gestern bei einer Freundin die einen Reitstall besitzt und wir waren reiten. Du reitest doch auch so gerne. Wenn du willst kannst mal mitkommen.«

Petras Augen leuchteten auf. Pferde! »Ich würde gerne mitkommen«, flüsterte Petra zurück und setzte sich. »Wann?«

»Morgen?«

»Super!« Und Petra fiel schon wieder in ihre Traumwelt. Diesmal ritt sie mit ihrer besten Freundin Tina durch einen Wald. Es war warm und es duftete verführerisch nach Pilzen. Vögel zwitscherten und Eichhörnchen sprangen flink von Ast zu Ast. Die Sonne warf durch die Blätter ein lustiges Muster auf den Boden und der Mondlicht-Schimmel trabte neben einer braunen Stute, auf der Tina ritt, dahin. Ihr Mondlicht-Schimmel schnaubte vergnügt. Petra ritt ohne Sattel und Zaumzeug auch Schuhe hatte sie keine an.

»Na, wie hat dir Jacks Feier gestern gefallen?«, fragte Tina.

»Es war super.«

»PETRA! Schläfst du schon wieder?«

Erschrocken fuhr Petra in die Höhe. Wo war sie? Sie wusste im ersten Moment nur, dass sie sich auf einmal wieder sehr eingeengt fühlte, überhaupt nicht mehr frei.

»En…entschuldigung!«, stammelte Petra.

Am nächsten Nachmittag schlenderten Petra und Rita gemeinsam zum Reitstall. Petra war aufgeregt. Sie war noch nie geritten, außer in ihrer Traumwelt. Ihre Hände waren feucht und sie musste tief durchatmen und sich zur Ruhe mahnen. Je näher die beiden Mädchen dem Reitstall kamen, desto aufgeregter wurde Petra. Rite warf ihr einen verwunderten Blick zu und da sahen die beiden schon den Reitstall.

Kurz darauf standen die beiden neben Michaela, die Tochter des Hofbesitzers, die ihnen Reitstiefel und Reithelme borgte. »So, jetzt schauen wir mal wen ihr reitet«, Michaela lächelte freundlich. Petra fand, dass Michaela Tina aus der Traumwelt sehr ähnlich sah. Zu dritt gingen die drei den Stall entlang. Links und rechts streckten Pferde neugierig ihre Köpfe über die Halbtür und Michaela nannte einige Namen.

Und da sah Petra ihn! Er stand am Ende des Stalles und fraß genüsslich ein bisschen Heu. Da stand ihr Mondlicht-Schimmel!

»Den möchte ich reiten«, erklärte Petra und ging auf das Pferd zu.

»Das geht nicht«, erklärte Michaela. »Das Pferd ist gemeingefährlich und böse. Es hat schon viele gute Reiter gebissen und …« Michaela brach mitten im Satz ab und konnte ihren Augen fast nicht trauen! Der Mondlicht-Schimmel begrüßte Petra wie eine alte Freundin und schmiegte freundlich den Kopf an ihrer Brust. In Petra machte sich ein Gefühl der Freiheit breit! Am liebsten hätte sie sich einfach so auf das Pferd gesetzt und wäre fort galoppiert.

»Petra«, meinte Michaela. »Das ist Wahnsinn. Dieses Pferd ist wie verwandelt! Es hat mich heute erst fast gebissen und nicht einmal der beste aus unserem Reitstall konnte es reiten.«

Petra nahm Michaela fast nicht wahr. »Ich würde es so gerne reiten«, erklärte sie und strahlte.

Michaela gab ihr Sattel und Zaumzeug und suchte auch für Rita ein Pferd.

Die drei Mädchen ritten einen Forstweg entlang Richtung Wald. Michaela und Rita waren erstaunt, dass Petra so gut ritt, obwohl sie angeblich noch nie auf einem Pferd gesessen war.

Sie galoppierten an und jagten über Stoppelfelder nur so dahin. Petra war so glücklich! Es war wie in den Träumen nur noch besser, denn es war Wirklichkeit. Und Petra wäre nicht verblüfft gewesen, wenn der Schimmel plötzlich abgehoben und gen Himmel geflogen wär, so leicht und frei war sie.

Von nun an kam Petra fast täglich zu dem Reitstall und ritt mit ihrem Mondlicht-Schimmel aus. Sie hatte jetzt nur mehr selten Tagträume, nur dann wenn ihre Mutter wieder mal ziemlich sauer war. Und in Michaela hatte sie eine tolle Freundin gefunden. Glücklich streichelte Petra dem Pferd den Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin ja soo glücklich und das hab ich nur dir zu verdanken, mein Mondlicht-Pferd!«