Gudrun Wieser (13)

Zu spät für Bine

Es war ein ganz normaler Schultag, in einer ganz normalen Klasse, in einer ganz normalen Schule. Miri schrieb von Meg zum x-ten Mal die Lateinhausübung ab, Tania und ihre Clique drängten sich, mit Schminkzeug bewaffnet, vor dem Spiegel, und Yen las wieder einmal ein neues Sience-Fiction-Buch.

Plötzlich wurde die morgendliche Ruhe jäh unterbrochen. Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mädchen, schwarz geschminkt, mit Piercings und Lederklamotten, stürmte in die Klasse. »Leute, das war ein Wochenende! Bis drei in der Disco, g’soffen bis zum uUmfallen!«

Dodo und Lara verdrehten genervt die Augen. Das war so ein typischer Auftritt für Bine, das schwärzeste Schaf unter den schwarzen Schafen in der Klasse. Sie war berüchtigt, und schon mehrmals in Begleitung der Polizei angetroffen worden. Drogen und Alkohol schienen für sie alltäglich zu sein, und die Lehrer hatten mittlerweile schon resigniert, ihr immer wieder die gleichen Vorträge über Entzug und Gesundheit zu halten. Mit ein paar Worten, die ich hier nicht nennen möchte, hatte sie auch schon die Direktorin zum Schweigen gebracht.

Bine war in der Klasse nicht sehr beliebt, und auch die Klassengemeinschaft hatte sich verändert, seit sie in der vierten Klasse dazugekommen war. Es hatten sich Gruppen gebildet, Cliquen, und die, die schon immer etwas abseits gestanden hatten, waren nun zu richtigen Außenseitern geworden.

Aber seit einigen Tagen hatte sich Bine geändert. Noch am Vortag hatte sie von ihrem letzten Discobesuch erzählt, und von ihrem bereits dritten Freund in der Woche geschwärmt. Nun saß sie stumm auf ihrem Platz, dunkle Ringe unter den Augen, zupfte an ihren Pireings, kratzelte Zeichen in ihre Hefte.

Es läutete. Bine verschwand auf s Klo. »Ich wett’ was, die raucht!« meinte Miri böse.

Plötzlich kam Karla, die die Ehre hatte, neben Bine zu sitzen, aufgeregt zu Meg, Dodo und Lara gelaufen. Die drei waren Klassensprecher, und wenn sich jemand direkt an sie wandte, dann musste etwas Schlimmes passiert sein. »Du, ich glaube, die Bine hat arge Probleme!« begann Karla.

»Kein Geld für Stoff?« witzelte Kiss.

»Nein, also ich glaube… also…«

»Na, was denn?!«

»Sie will sich umbringen!«

»WAS!?«

Schnell war alles erzählt. Karla hatte schon seit längerer Zeit beobachtet, wie Bine lauter Kreuze und Grabsteine in ihre Hefte kritzelte. Außerdem hatte sie vor kurzem so etwas wie einen Abschiedsbrief in ihrem Fach gefunden. »Irgend etwas mit Tod – 10 Uhr – DJ – H, steht da«, erzählte sie.

Bald war ein Entschluss gefasst. Dodo und Lara sollten nach der Schule noch mit Bine reden. Nach der sechsten Stunde war ein großer Aufruhr in der Klasse. Das Gerücht um Bine hatte sich schnell herumgesprochen. Jeder hatte angeblich schon immer gewusst, dass so etwas passieren würde.

Bine war die letzte, die noch in der Klasse war. Dodo und Lara warteten vor dem Schultor. Endlich kam Bine. Sie wirkte seltsam abwesend, so als ob sie mit den Gedanken irgendwo anders wäre – winzig kleine Pupillen, unsicherer Schritt.

»Du, wir wollten noch mit dir reden…« sprach sie Lara an.

»NEIN!« Bine stieß sie weg und rannte los. Mehrmals stolperte sie. Ein Folienknäuel fiel ihr aus der Tasche. Sie drehte sich um, lief zurück, hob es auf, rannte weiter. Bine lief zur U-Bahnstation.

Endlich erwachten Dodo und Lara aus ihrer Starre und nahmen die Verfolgung auf. »Zum Klo, sie ist dort!«

Dodo öffnete die schmutzig graue Tür, auf der man nur noch schemenhaft die Buchstaben WC erkennen konnte. Eine Kabinentür stand halb offen. Lara stieß einen spitzen Schrei aus. Da lag Bine!

Um sie herum Reste von weißem Pulver. Ein Zettel lag am Boden: »Ich musste gehen – es wird alles anders.«

 

Das Phantom der Oper

Geschafft! Ich packte meine Oboe ein und meldete mich beim Portier ab. Heute war die letzte Aufführung von Nabucco problemlos über die Bühne gelaufen. Als nächstes stand das Phantom der Oper auf dem Programm. Auch wenn ich eigentlich nur im Orchestergraben saß, freute ich mich schon sehr auf die Aufführungen. Die vielen Spezialeffekte und die tolle Musik – ich war schon ganz aufgeregt. Schon in zwei Wochen hatten wir Szenenproben.

»Geigen nach dem zweiten Takt volles Forte, Trompeten keinen so harten Ansatz, Pauken nachstimmen – D-Moll!« begann der Dirigent die erste Probe mit dem Bühnenensemble

»Ich hasse ihn!« stöhnte Julia, die neben mir mit dem Fagott saß. »Kein Wort der Begrüßung, aber gleich kritisieren!«

Die einzelnen Szenen verliefen ganz gut, abgesehen davon, dass ich zweimal in die Generalpause hineinspielte. Aber als dann Tom, das Phantom, Kathi, die die Christin spielte, in seine Unterwelt entfürte, geschah etwas Seltsames. Zuerst war alles ganz normal. Leises Geigentremolo, Kerzen fuhren aus dem Boden. Dann das Thema »In dreams he sang to me…« begann Kathi. Dann wurde das unheimliche Bild der Keller unter der Oper auf die Bühne projiziert, aber ständig flog irgendein seltsamer Schatten vorüber.

Wie gebannt starrte ich in diese Richtung. Auch Julia und die Brasilianerin mit der Harfe hatten es bemerkt.

»Konzentration, meine Damen!« holte uns der Dirigent wieder in die Wirklichkeit zurück.

Ich wandte mich meinen Noten zu und versuchte, nicht mehr auf meine Umgebung zu achten.

Nach der Probe kam Julia aber plötzlich ganz aufgeregt zu mir. »Du, ich war vorhin nur ganz kurz am Klo, und wie ich dann wieder da war, war mein Anblasrohr weg!«

»Na, und was hast du gemacht?« Ich war zwar nicht sehr interessiert, in einem großen Orchester verschwindet ständig etwas, aber weil sie meine Freundin war, tat ich wenigstens so, als ob ich mit ihr fühlte.

»Ja, ich habe nicht mehr spielen können! Irgendwer muss das Rohr genommen haben!« Im selben Moment stürmte Karl mit seiner Trompete heran. »Hat jemand von euch meine Ablassschraube gesehen?«

»Lass mich raten: Du hast kurz nicht hingesehen, und schon war sie weg?« fragte Julia, und Karl nickte.

»Ist sonst noch jemandem etwas gestohlen worden?« schrie Julia übermütig quer über die Bühne. Und wirklich meldeten sich noch zwei betroffene Trompeter, denen auch die Ablassschrauben verschwunden waren.

»Sehr mysteriös!« meinte Karl.

In den anderen Proben bis zur Aufführung mussten Julia und die Trompeter mit Ersatzteilen auskommen. Aber das Stehlen ging weiter. Es verschwanden hauptsächlich kleine Schrauben oder Klarinettenblättchen. Julias Anblasrohr war der größte Gegentand, der verschwand. Allerdings, mir wurde nichts gestohlen, meine Oboe blieb heil.

»Was hältst du eigentlich von der ganzen Sache?« fragte mich Julia, als wir wie jedes Mal vor einer Premiere im Kaffeehaus saßen.

»Also ich weiß nicht.«

»Wenn ihr mich fragt«, mischte sich Karl ein, »der Dirigent ist mir schon immer seltsam vorgekommen. Ich kann ihn nicht leiden!«

»Wer kann das schon«, murmelte Julia. »Glaubt ihr im Ernst, der Dirigent schleicht durch’s Orchester und lässt Ablassschrauben und Anblasrohre mitgehen?«

»Das ist absurd!«

»Aber was haltet ihr von dem Kerl mit dem Schlagzeug?« fragte ich.

»Der stiehlt nicht, sein Vater ist Millionär.« Tom legte seinen Text zur Seite. »Also, wenn ich heute nicht selbst das Phantom wäre, würde ich sagen: Ein Phantom geht um.«

»Wie unheimlich! Und plötzlich erscheint es dann auf der Bühne…«

»…und lässt den Luster auf die Leute fallen!« beendete Karl meinen Satz. Tom grinste und vertiefte sich wieder in seine Rolle.

»Aber was ist, wenn wirklich so etwas passiert, und jemand vielleicht alles sabotieren will«, überlegte Julia.

»Dann lässt er aber nicht nur Klarinettenblättchen und Anblasrohre mitgehen«, sagte ich lässig, aber in meinem Kopf spukte dieser Gedanke noch weiter herum.

Mit einem unguten Gefühl ging ich am Tag der Premiere in die Oper. Wir alle waren total aufgeregt. Kathi verschwand mit dem Korepititor zum Einsingen im Klaviersaal, und Tom zerkugelte sich über seine Phantom-der-Oper-Maske, mit der er angeblich wie der Scream Man aussah. Florian, für heute Abend Raul, schrieb einen Liebesbrief, er war nämlich wirklich in Kathi, die Christin, verliebt. Ich spielte mich auf der Oboe ein und stieg in den Orchestergraben.

Nur noch wenige Minuten. Meine Hände zitterten. War da nicht ein Schatten? Ich erschrak. »Red’ dir das nicht ein, da ist nichts!« sagte ich zu mir.

Das Publikum klatschte. Der Dirigent erschien mit säuerlicher Miene im Orchestergraben.

Die Aufführung begann. Die Ouvertüre war gar nicht schlecht, die Geigen vielleicht etwas zu leise.

»Think of me…«, begann die Geschichte. Kathi, leicht nervös, sang toll.

Plötzlich streifte ein Schatten mein Gesicht. Julia, neben mir, sah sich erschrocken um. Auf einmal nahm ich Murmeln im Publikum war. »Nein«, dachte ich, »nicht den Luster zu früh runter lassen!« Flehend sah ich zum Bühnentechniker hinüber. Aber der tat nichts. Im Publikum war noch immer Gemurmel zu hören.

»…eine Dohle…«, konnte ich die Worte aufschnappen. Der Vogel flog vor der Bühne hin und her und zauberte gespenstische Schatten auf das Bühnenbild. Im Publikum wurde es wieder ruhig.

»…pass the point of no return…«, sangen Tom und Florian. Kurz schaute ich zu dem Vogel hinauf. Etwas glänzte in seinem Schnabel. Ein Ellbogenstoß von Julia holte mich wieder zu meinen Noten zurück.

Nach der Aufführung kam Julia lachend zu mir. »Ich denke, wir kennen nun den Dieb!«

»Und das Phantom«, fügte ich in Gedanken dazu. Irgendwie war ich erleichtert, dass die Sache nun geklärt war. Florian allerdings war etwas sauer, weil sich die Leute ausgerechnet in seinem großen Solo lautstark mitteilen mussten, dass da eine Dohle war.

Am nächsten Tag kam Karl zu uns und legte fünf Ablassschrauben, vier Klarinettenblättchen und Julias Anblasrohr vor uns hin. »Ein Bühnenarbeiter hat das Nest in der Hinterbühne gefunden. Das kleine Fenster über dem Schnürboden war offen, da ist der Vogel vermutlich hereingekommen.«

»Und ich dachte schon, es war das Phantom!« lachte Julia.