Iris Vukovics (13)

Vom Igel, der fliegen wollte

Eines Morgens, als die Sonne den Mond abgelöst hatte und der Tau noch die Gräser und Blumen benetzte, beschloss der Igel zu fliegen. Wie er auf die Idee gekommen war, wusste er nicht mehr. Vielleicht weil er den Bussard gesehen hatte, der, die Flügel weit ausgebreitet, am Himmel geschwebt war. Vielleicht aber auch, weil den Igel eine Sehnsucht nach Freiheit und unendlicher Weite gepackt hatte. Oder es war einfach eine der vielen Ideen, die der Igel in den nebligen Morgenstunden so hatte. Aber am wahrscheinlichsten war, dass der Igel einfach Hunger hatte. Hunger auf mehr als die Würmer, die die Natur ihm zugedacht hatte. Zum Beispiel auf die Libellen und anderen Insekten, die scheinbar so fern über ihm schwirrten. Aber wie soll ich fliegen, dachte der Igel, wie soll ich bloß jemals die weißen Wolken berühren? So überlegte der Igel, bis die ersten Sterne am Himmel standen und die Eule ihr Lied sang. Ich werde fliegen, dachte der Igel, bevor ihm die Augen zufielen.

Am nächsten Morgen, als der Igel seinen Durst gelöscht hatte, indem er die Tautropfen von den Blättern leckte, hatte er einen Einfall. Er würde die Eule fragen, das allwissende Tier und Herrin der Nacht. Also trabte er los, über Hügel und an einem Teich vorbei, einen Bogen um das Wespennest schlagend. Dann hielt er an und sah sich um. Sein Blick huschte über die scheinbar so vertraute Landschaft, und er schnupperte den frischen Duft des Frühlings. Es ist ein schöner Tag zum Fliegen, dachte der Igel, es ist ein Tag, an dem Träume zur Wirklichkeit werden können. In Gedanken versunken wieselte er weiter, so schnell ihn seine Pfoten trugen.

Als die Sonne ihren höchsten Punkt schon überschritten hatte, erreichte er den Wald, in dem die Eule hauste. Er sah schon die alte Eiche, die majestätisch aussah, so stämmig und groß, anders als die jungen Tannen, mit denen der Mischwald aufgeforstet wurde. Der Igel beeilte sich, zu seinem Ziel zu kommen. Doch wenige Meter vor dem riesigen Baum sprang etwas vor seine Füße.

Wohin des Weges, fragte das Eichhörnchen, sich wieder aufrappelnd, und noch bevor der Igel zu Wort kommen konnte, redete es weiter.

Da der Igel weder mutig, gesprächig noch sehr intelligent war, hörte er dem Eichhörnchen zu.

Es gibt einen Ort, fuhr der geschwätzige Nager fort, an dem werden alle Wünsche war.

Alle, dachte der Igel, auch meine?

Das Eichkätzchen sprach nun etwas leiser, ja es wisperte beinahe. Bei der Lichtung, flüsterte es, auf der anderen Seite des Waldes.

Noch bevor der Igel sich bedanken konnte, war sein Wohltäter auch schon wieder verschwunden. Da erinnerte er sich. Er kannte die Lichtung, die ersten Jahre seines Lebens hatte er dort verbracht. Was er allerdings nicht kannte, war die Forststraße, die kürzlich dort gebaut worden war. Der Igel wanderte weiter, seinem Ziel zu, immer der Nase nach. Da erblickte er die Lichtung, nur getrennt von ihr durch die Straße, die er jedoch nicht als Gefahr sah, hatte er es ja nicht anders gelernt. Voll Vorfreude lief er los.

Zu spät bemerkte der Igel das Auto, das mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke bog. Als es in ihn hineinschlitterte, schleuderte es ihn durch die Luft.

Ich fliege, dachte der Igel, kurz bevor er hart am Boden aufschlug, ich fliege. Es stimmt also wirklich.