Iris Vukovics (12)

Im falschen Nest?

Der kleine Vogel war blau. Dunkelblau. Ihr werdet euch fragen, was das Besondere daran ist. Nun, seine Mutter, sein Vater, seine Brüder und Schwestern waren rot. Knallrot.

Der kleine Vogel war klein. Klein von Statur. Ihr werdet sagen, na und? Nun, seine Mutter, sein Vater und seine Geschwister waren groß. Sehr groß.

Der kleine Vogel war zart und hatte einen schwarzen Fleck am Bauch. Aber seine Eltern und Geschwister waren stämmig und hatten einen grünen Fleck. Und zwar am Rücken.

Ausserdem hatte der kleine Vogel einen gelben Schnabel, und keinen orangen, wie seine Familie. Auch seine Schwanzfedern waren kürzer.

Der kleine Vogel sah rundherum anders aus. Und das war nicht leicht für ihn.

Abends, wenn er im Nest lag, konnte der kleine Vogel nicht schlafen. Sein Magen knurrte, sein Herz tat ihm weh und, er wollte nicht träumen.

Sein Magen schmerzte, weil er nichts gegessen hatte. Meistens aß er nichts. Wenn die Mutter oder der Vater mit einem Wurm oder einem Käfer nach Hause kamen, stürzte sich immer der älteste Bruder auf das Futter. Er war der stärkste, der mit dem dicksten Bauch. Er kreischte immer am lautesten von allen. Da fiel er auf. Etwa fünf Würmer oder Schnecken aß er, dann war er vorerst satt. Anschließend kam die grösste dran. Das war die jüngste Schwester. Die aß vier Würmer oder Käfer. Dann wurden die anderen drei Geschwister gefüttert. Der jüngste Bruder, der den kleinen Vogel noch um Federlängen überragte, die große und die mittlere Schwester. Die stritten um das Futter und aßen, wenn sie etwas erwischten. Da sie ungefähr gleich groß und stark waren, wechselte es immer, wer den Magen voll bekam. Es war Glückssache. Wäre der kleine Vogel genauso stark und groß wie die drei, hätte er jetzt wohl keinen Hunger. Aber das war er ganz und gar nicht, also knurrte ihm der Magen. Wenn seine Geschwister ganz satt waren und seine Eltern noch etwas brachten, konnte auch der kleine Vogel essen. Oder wenn sich durch Zufall ein Insekt ins Nest verirrte, ohne dass jemand es bemerkte. Das waren dann immer richtige Festtage.

Sein Herz tat ihm weh, weil er keinen Freund hatte. Auch in der Familie hatte er keine Freunde, zumindest glaubte er das. Das Gefühl, dass keiner ihn mochte, tat ihm in der Seele weh. Wenn sowohl Herz als auch Seele schmerzen vor Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, dann tut auch der Rest des Körpers weh. Das war bei dem kleinen Vogel der Fall.

Warum glaubte er, dass keiner ihn mochte?

Die Mutter und der Vater waren nie so richtig nett zu ihm. Sie wärmten ihn nicht in der Nacht und hatten nie ein nettes Wort für ihn übrig. Ausserdem brachten sie ihm nie frisches Heu oder Stroh zum Schlafen und er durfte sich nicht unter ihre Federn kuscheln, also hatte er keinen gemütlich warmen Schlafplatz. Es bestand kein Zweifel für den kleinen Vogel: Sie hatten ihn nicht gern. Ganz zu schweigen von seinen Geschwistern. Sie hackten auf ihm herum und beschimpften ihn. Sie piesackten ihn, wo es nur ging. Er gehöre nicht hierher, sagten sie und lauter andere gemeine Sachen. Nicht einmal der sonst so freundliche kleinste Bruder war auch nur ansatzweise nett.

Er wollte nicht träumen, weil er ein kleiner, lieber Kerl war und keine Alpträume vertrug. Er träumte immer wieder, dass er hier wirklich nicht zu Hause war, hier, wo er die Eierschale verlassen hatte. Er träumte, dass seine falschen Eltern es ihm nicht sagten, dass er nicht ihr Kind war. Aber das Schlimmste war, dass er tief drinnen wusste, dass das stimmte!

So saß er in der schlecht gepolsterten Ecke seines Nestteils und hielt krampfhaft die Augen offen. Da kam ihm ein Gedanke. Er würde… Er würde seine richtige Eltern suchen und bestimmt auch finden. Es gab sicher nicht viele Vögel wie ihn. Und mit diesem glücklichen Gedanken schlief der kleine Vogel ein.

Er wachte auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Er hatte seit Tagen die erste traumlose Nacht verbracht. Neben ihm balgten sich seine Geschwister. Die Mutter und der Vater waren wohl ausgeflogen, um die hungrigen Mäuler zu stopfen. Am Abend würde er für immer verschwinden. Nie mehr müssten sie ihn wieder sehen. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. Vielleicht würden sie dann um ihn weinen. Sollten sie doch! Bittere Tränen, bis sie daran ertrinken. Ja, solche Gedanken huschten dem kleinen Vogel durch den Kopf. Aber bei der Suche nach seinen wahren Eltern gab es ein kleines Problem. Der kleine Vogel war noch nie lange geflogen. Das Prinzip kannte er, aber wie das mit der Praxis ging, na ja…

Doch da geschah ein Wunder. Über dem Kopf des kleinen Vogels flog eine Schar blauer Vögel mit einem schwarzen Fleck am Bauch! Der kleine Vogel breitete seine kleinen Flügel aus und sprang mit einem Schrei aus dem Nest. Er begann wie wild zu flattern und sauste steil hinunter, da trug ihn eine Windböe nach oben – hoch hinaus – zu den blauen Vögeln – vielleicht zu seiner Familie!

Keiner schien den kleinen blauen Vogel zu bemerken, der mit flog, heimlich, als blinder Passagier im Vogelschwarm. Alle diese Vögel waren so wie der kleine Vogel, genau so wie er. Es muss ein wunderbares Gefühl sein, zu Hause zu sein, dachte der kleine Vogel. Er hatte es immer noch nicht ganz begriffen – er war daheim! Wieso aber freute er sich nicht so richtig? Warum war ihm irgendwie schwer ums Herz, wo er nun doch weit weg von seinem verhassten Zuhause war, fort von seiner gemeinen Familie? Die blauen Vögel setzten zur Landung an.

Mit einem plötzlichen Sturzflug ließen sie sich hinunter auf die Wipfel einer Baumgruppe. Dort lagen in Nestern winzige Eier. Sollte das heissen, dass der kleine Vogel bereits jüngere Geschwister hatte? Sekunden später waren alle Nester besetzt. Nirgendwo war ein kleines Plätzchen frei. So setzte sich der kleine Vogel auf ein kleines Stück Ast und wartete auf die Dunkelheit.

Jetzt verstand er: Hier bin ich fremd, nicht in meinem alten Zuhause. Hier kennt mich keiner und keiner hat mich lieb. Ich habe keinen Platz zum Schlafen und nichts zu essen.

Ganz traurig wurde der kleine Vogel, Tausend Mal trauriger, als er jemals früher gewesen war.

Die Nacht kam und der kleine Vogel schlief sehr unruhig. Zweige wurden vom Wind in sein Gesicht geweht und die Blätter rauschten laut. Kein warmes Heu und Stroh oder gar weiche Federn schützten ihn davor, hinunter zu plumpsen. Der kleine Vogel träumte nicht, obwohl er sich nach beruhigenden Träumen sehnte.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel fielen, erhob sich der kleine Vogel. Er hatte schrecklich gefroren und brauchte einige Zeit, bis er innerlich auftaute. Dann flatterte er los.

Dem kleinen Vogel kam der Rückflug wie eine Ewigkeit vor. Doch als er wieder in seiner vertrauten Umgebung war, war ihm so leicht ums Herz, dass er wie ein Luftballon hätte davonschweben können.

Sanft landete er im Nest. Seine Eltern kreischten laut auf, als sie ihn sahen.»Wo warst du?« piepste der Vater und legte dem kleinen Vogel ein paar Käfer zu Füssen. »Du bist ja ganz kalt«, tschiepte die Mutter und wärmte den kleinen Vogel ein bisschen. »Du hast uns ganz schlimm gefehlt«, wimmerten die Geschwister.

Bis in die Nacht hinein redete die Vogelfamilie miteinander über das, was passiert war. Die Vogeleltern beteuerten, dass sie den kleinen Vogel sehr lieb hätten, aber nicht bemerkt hätten, dass er unglücklich war. Und die Geschwister entschuldigten sich und meinten, dass sie das alles nicht so ernst gemeint hätten. Da wisperte der kleine blaue Vogel seiner roten großen Familie zu: »Stellt euch vor, beinahe hätte uns ein dummes Missverständnis auseinander gebracht. Dabei sind wir die beste Familie, denn rot und blau, das passt wunderbar zusammen.«

 

Allein

Laut rattert der Motor, die Hupe des Wagens heult auf. Alles dreht sich, das Gefährt setzt sich in Bewegung. Immer kleiner wird mein Zuhause, in der Ferne verklingt das Bellen und Jaulen meiner Eltern, das leise Winseln meiner Geschwister. Leise höre ich noch das raue Gebell meiner Mami, etwas weicher das Jaulen meines Daddys. Jetzt sind nur noch entfernt diese tröstenden und zugleich verletzenden Töne zu hören.

Alleine bin ich jetzt, ganz alleine. Alleine mit der lauten Musik, die aus dem Autoradio kommt. Fetzige Töne, die in den Ohren schmerzen. Stimmen, die mir unbekannt sind, irgendwie bedrohlich, erschreckend wirken. Hände, unbeholfene Hände, die nach mir greifen. Finger, die sich in mein Fell bohren, an meinen Haaren reissen. Ungewohnte Gerüche, die meine Nase reizen, die mich fast ersticken lassen, weil sie neuer und fremder nicht sein könnten. Ja, nicht einmal ein Staubkorn, das im Licht der Autolampe flackert, ist mir vertraut, bekannt.

Nur Fremdes, nichts Tröstendes. Nur noch stille Erinnerungen…

Ich wache auf. Neben mir meine zwei Schwestern und meine drei Brüder. Sehen kann ich sie nicht, schließlich bin ich erst vier Tage alt. Aber fühlen… Meine Mami; wann ich sie wohl das erste Mal mit meinen Augen festhalten kann? Und meinen Papi, meinen Daddy? Ich will nie weg von hier. Alle sind so gut zu mir, dem kleinen Irish-Setter-Welpen. Nicht nur, weil ich reinrassig bin. Einfach alles ist vertraut, nichts flößt mir Angst ein…

Acht glückliche Hundewochen habe ich erlebt, mit Fressen, Schlafen, Raufen, Spielen, Kuscheln, Knuddeln, Bellen, Jaulen und Winseln. Dann, dann haben sie meine kleine Schwester geholt; ich habe sie nie wieder gesehen, außer in meinen Träumen…

Frauchen und Herrchen stehen vor der Eingangstür und warten. Frauchen hat meine Schwester im Arm. Eine alte Frau tritt ein. Sie gibt Herrchen ein paar Scheine und nimmt sich dafür meine Schwester. Soll das heißen, ich werde sie für wertloses Papier verlieren? Das darf doch nicht sein? Haalt! Aber da ist die Tür schon ins Schloss gefallen.

Drei Tage später, heute, haben sie mich geholt. Ein Mann, eine Frau, zwei Kinder. Haben mich in dieses Auto geschleppt. Aber ausser Angst haben sie mir nichts gegeben. Wisst denn ihr LeserInnen, was ihr zerstört, wenn ihr einen Hund aus seiner Familie herausreißt?! Ich sage es euch: Ihr nehmt ihm die Luft zum Atmen.

Aber da hält das Auto schon mit einem Ruck an. Wo bin ich? Nirgendwo ein Baum, weit und breit keine Blumenwiese. Es riecht nach Abgasen und nach Tausenden von Menschen. Riecht nicht nach frischem Gras, nicht nach vertrauten Leuten. Nicht nach Mami und Daddy, nicht nach meinen Geschwistern.

Jemand mit kräftigen Armen hebt die Kiste hoch, rümpft angewidert die Nase. Hätten sie mich doch vorher noch hinaus gelassen, damit ich mein Geschäft hätte erledigen können. Jetzt ist es ohnehin schon zu spät… Das sagt auch die Frau, die mich vorher hochgehoben hat und jetzt die Treppen hinaufträgt.

Sie setzen mich ab und knallen die Haustüre so laut zu, dass meine Ohren beinahe abfallen. Es wird schön langsam dunkel, wird finster. Jetzt bin ich noch viel mehr allein; zumindest habe ich das Gefühl, dass dem so ist. Man stellt mir einen Napf vor die Nase, eine Schüssel mit Wasser. Vor mir steht ein Weidenkorb und darin liegen ein Gummihuhn und eine alte Decke. Die alte Decke wirkt vergammelt und stinkt nach Waschpulver. Und was habe ich mir je aus unechten Tieren gemacht? Gar nichts! Ja, Wasser, das täte mir gut… Soll ich reinrassiger Irish-Setter-Rüde, wirklich davon…

Ich strecke meine Zunge in die Wasserschüssel und schlabbere. Aber das Wasser schmeckt sowieso wie immer. Hunger hätte ich ja auch, aber diese Haferschleimmasse in meinem Napf krieg ich beim besten Willen nicht runter.

Da kommen die zwei Kinder, die zwei kleinen Bälger, und ziehen an meinem Schwanz und meinen Ohren.

»Ab ins Bett, Luisa!« Das war der kleine dicke Mann, der auf dem Beifahrersitz gesessen war. Er packt das kleinere von den beiden Kindern und trägt es ins Bett. Das Ältere geht auch weg, trappelt in die Küche und trinkt etwas.

Da geht die kräftige Frau vorbei, krault mich unsanft hinter den Ohren. Plötzlich kriegt sie einen Schreikrampf, hebt mich am Nackenfell hoch. Sie beutelt mich und deutet schnaufend auf das kleine braune Häufchen, das ich in einer Ecke des Korbes hinterlassen habe, als gerade niemand hingesehen hat. Sie regt sich bei dem kleinen dicken Mann darüber auf und schreit, dass angeblich stubenreine Hunde so etwas nicht dürften. Der Mann geht auf sie zu und tätschelt ihre Wange. »Beruhige dich, Margaret«, sagt er. Die Frau wird ganz leise und geht schnaufend in ein anderes Zimmer. Der Mann trippelt hinterher, vergisst aber nicht, mich zu kraulen. So ein Schleimer! So ein blöder Schleimer!

Mittlerweile ist auch das zweite Mädchen zu Bett gegangen. Jetzt bin ich ganz alleine. Leise winsele ich vor mich hin, drücke mit diesen wenigen Lauten mein ganzes Leid aus. Niemand ist da, niemand, der mich wärmt, niemand, der mich putzt oder einfach nur lieb hat. Könnte ich weinen, bestimmt würde ich in einem Tränenmeer ertrinken, einfach für immer verschwinden. Ach, vielleicht sollte ich besser sterben, sollte ich dem hier ein Ende bereiten, bevor ich von meinen Gefühlen erdrückt oder von meinen Gedanken erdrosselt werde. Fremder werde ich mich nie fühlen; nie, nie mehr werde ich so unglücklich sein. Oder war das erst der Anfang vom Ende, der Anfang dieses leidvollen Spiels? Ach, ich habe wohl mit Daddy zu viele Seifenopern gesehen! Aber das ist jetzt sowieso schon zu spät, denn diese Nacht werde ich, so allein, sicher nicht überleben. Ich fange ja schon wieder an…

»Pssst!« Es ist das ältere der beiden Mädchen. Sie schleicht auf Zehenspitzen in die Küche. Etwas raschelt. Sie kommt zu mir und streichelt mich. »Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Flora. Und du? Weisst du, wie du heisst? Wohl kaum. Naja, ich erzähle es dir. Wir haben dir nämlich schon einen Namen gegeben. Du heisst – und hoffentlich gefällt dir dein Name – du heisst nämlich Tyzian. Ich finde es ganz schön. Klingt irgendwie edel, so wie du … Ich darf dich doch duzen?«

Die kann ja höflich sein! Vielleicht ist sie ja doch ganz nett…? Zur Antwort wedle ich zögernd mit meinem Schwanz.

»Bist wohl schon müde, was? Na komm, für deine erste Nacht, weg von zu Hause, kann man dir den Korb nicht zumuten. Schon alleine diese Decke, einfach grauenhaft! Sie stinkt! Aber morgen besorgt dir meine Mami eine andere. Das Gummihuhn ist doch genial, oder? Man kann sicher toll damit spielen? Probieren wir es morgen aus, ja? Tut mir leid, dass ich soviel rede, aber ich bin so aufgeregt, weil du jetzt endlich da bist. Ich habe mich ja schon sooo auf dich gefreut. Komm, ich nehme dich mit in mein Zimmer.«

Sie hebt mich hoch und trägt mich ins Kinderzimmer. Sie huscht in ihr Bett, nimmt mich mit unter die Decke und kuschelt mit mir. »Ach ja, bevor ich es vergesse. Da! Haferschleim magst du ja anscheinend nicht.« Sie gibt mir ein Stück Schinken, das ich genüsslich verzehre.

Flora flüstert mir noch ein »Gute Nacht« zu, dann schläft sie ein. Hier fühle ich mich wohl, unter der Bettdecke bei meiner neuen Freundin. Es ist ja doch ganz fein hier … Meine Familie werde ich zwar noch längere Zeit vermissen, aber… Egal. Morgen lerne ich den Rest der Familie kennen.

Bevor ich einschlafe, kuschle ich mich noch ein letztes Mal in die Arme meiner Freundin. Und während ich mich, in meinen Träumen, mit meiner neuen Familie vertraut mache, rückt mein altes Rudel ein Stück weit weg. Vergessen werde ich es nie, aber ich will an einem Ort, an dem man mich mit offenen Armen empfängt und liebt, nicht länger fremd sein.