Pauline Vörös (12)

Der Zug nach Nirgendwo

Gedanklich war ich noch bei der Party gestern. Aber nun waren Ferien, und ich saß im Zug auf dem Weg zu meiner Tante in München. Meine Eltern saßen wahrscheinlich gerade im Flieger nach Florida. Gedankenverloren sah ich auf den Fahrplan, um zu sehen, wie lange ich noch zu fahren hatte. Sofort war ich hellwach. Ich blätterte ihn wieder und wieder durch, doch München stand einfach nicht darauf. Das Datum und so stimmte.

Sollte das ein Scherz sein? In Panik rannte ich aus dem Abteil. Wohin fuhr dieser Zug? Ich rannte von Abteil zu Abteil, doch hier saß keine Menschenseele. Einen Wagen nach dem Anderen durchsuchte ich. War ich wirklich die Einzige hier?

Doch… da hinten! War da nicht jemand? Ja, verschwommen sah ich einen älteren Mann näherkommen. Erleichterung durchströmte mich. Als der Mann nahe genug war, sah ich den weit aufgerissenen Mund und die hervorquellenden Augen. Abrupt machte ich kehrt.

»Bleib…« sagte er mit kratziger, rauchiger Stimme, als ob er sie sehr, sehr lange nicht mehr gebraucht hätte.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich rannte, was das Zeug hielt, um mein Leben. Ich hatte nur noch einen einzigen Gedanken. Weg, bloß weg. Ein eisiger Windstoß kam mir entgegen.

Kalte Hände, die sich wie tot anfühlten, packten mich um den Hals. Ich würgte, als der Griff fester wurde. Sollte das mein Ende sein?


Ich mag dich

Lena saß in ihrem Zimmer und überlegte, wie sie es Marco beibringen sollte. Ihre Freundin sagte immer, sie hätte kein Vertrauen zu sich selbst. Da stand sie nun mit einer Broschüre in der Hand.

»Stellen sie sich vor den Spiegel und sagen sie ganz ernst zu ihrem Spiegelbild: ICH MAG DICH.«

Ja, da stand sie nun vor dem großen Wandspiegel im Flur. »Von Lügen war da nicht die Rede, oder?« sagte sie zu sich selbst.

Ein paar Minuten stand sie unschlüssig vor dem Spiegel. Eigentlich war sie wirklich hübsch. Ihre langen, lockigen braunen Haare waren zu zwei Zöpfen gebunden und passten zu ihrer grünen Augenfarbe und dem von der Sonne gebräuntem Gesicht.

»Ich mag dich«, sagte sie, wie sie sollte, zu ihrem Spiegelbild.

Sie fand es albern, wer fand sich schon toll? Die superschlanken Models fanden sich fett, obwohl sie regelrechte Spargel waren, Muskelprotze hassten ihre Figur und so weiter. Wieso sollte sie sich denn dann mögen? Und was musste sie tun, um Marcos Herz zu erobern?

Alles half nichts, und wieder saß sie in ihrem Bett und weinte, wie sie es schon so oft getan hatte.

»Ich mag dich«, schrieb Lena auf einen Schnipsel Butterbrotpapier. Sie riss es in tausend Stücke und ließ es aus dem Fenster rieseln. Sie weinte noch heftiger als zuvor. »Morgen sagst du es ihm einfach«, dachte sie.

Am nächsten Tag stand sie vor Marco und brachte kein Wort heraus.

»Alles umsonst«, dachte sie betrübt und ließ sich auf ihren Platz sinken. Da segelte ein Papierflugzeug durch die Luft, auf sie zu. In Gedanken immer noch bei ihrer Unfähigkeit zuvor, faltete sie den Flieger auf und erkannte sofort Marcos saubere Handschrift: ICH MAG DICH.

Mitternacht

Es ist Mitternacht,
der Mond ist erwacht.
Leise Schritte sind zu hören,
niemanden scheint es zu stören.
Am Horizont erscheint eine dunkle Gestalt,
in den Augen rohe Gewalt.
Hinter den Bäumen,
die ihre Äste sträuben,
hockt ein Kind,
seine Lebenszeit rinnt.
Wird er es finden?
Wird er es schinden?
Doch hinter dem Kind,
ganz geschwind,
kam die dunkle Gestalt
und hat sich um des Kindes Halse gekrallt.
Dumpf fällt die leblose Kindergestalt
Auf den kalten rohen Asphalt.