Christiane Scherch (13)

Raus

Ich schlug die Augen auf. Gerade wollte ich mich strecken und zufrieden über meinen ruhigen Schlaf lächeln, da fiel mir ein, dass heute wieder ein weiterer Tag in der Schule war und ich keine Lust hatte, mich wieder mit dem Chemielehrer zu streiten. Das alles ging nun schon wochenlang. Immer wieder fiel ihm was Neues ein womit er mich dumm machen konnte. Und das nur, weil mein Bruder damals dafür gesorgt hatte, dass dieser Typ beinahe von der Schule geflogen wäre.

Zudem noch der ständige Streß mit Miriam und der eingebildeten Clique. Dann noch die Scheidung meiner Eltern und meine gefährdete Versetzung. Schlechtes Wetter kam auch noch mit dazu. Konnte es etwas Schlimmeres geben, als unlösbare Probleme? Ganz offensichtlich nicht. Es gab zwei Lösungen: Selbstmord, damit hatte man gar keine Probleme, oder Abhauen und darauf warten, dass die Probleme einen einholen.

Noch immer lag ich im Bett. Dann wusste ich es: ABHAUEN. Einfach nur raus. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett. Ich zog mich an, nahm irgendeine Tasche, stopfte irgendwas hinein und ging. Ich hatte keine Ahnung, wohin, ich wusste nur eines: Ich musste raus. Ich schlenderte die Straßen entlang, ging auf den Markt, durch einen Wald und schließlich kam ich an. Wo genau, weiß ich gar nicht aber es war das Ziel und ich war raus!

 

RAUS

Das weite Land kann man spüren,
die laue Luft kann man berühren,
man kann alles vergessen,
das Laufen, das Essen,
man kann ganz hoch fliegen,
auf einer Wolke liegen,
man kann einfach lachen,
über einfache Sachen,
vom Boden abheben,
frei sein, frei leben,
du brauchst kein Geld und kein Haus,
denn dann kannst du eins:
Du kannst RAUS!

 

Mallorca

Es begann alles in etwa vor einem Dreiviertel Jahr. Meine Großeltern hatten Kurzerhand den Entschluß gefasst, mich mit nach Mallorca zu nehmen. Ich wollte anfangs gar nicht mit, weil ich panische Angst vorm Fliegen hatte. Nicht unbedingt vorm Fliegen, sondern eher vorm Abstürzen. Letztendlich wollte ich eigentlich gar nicht mehr mit. Doch es war gebucht und somit auch ganz offensichtlich zu spät.

Ich hatte mein Leben bereits auf dem Weg zum Flughafen abgeschlossen. Ich hatte vor, im Flugzeug sofort einzuschlafen, um den Absturz nicht ganz so heftig mitzubekommen. Aber das wäre wegen meiner ständig schwatzenden Oma wohl kaum möglich gewesen. Ich hörte ihr aber trotzdem nicht zu, und beschäftigte mich mit dem Gedanken an den Tod.

Das Geschehen rauschte solange an mir vorbei, bis ich endlich im Flieger saß und dieser langsam abhob. Dann sah ich irgendwann mal zufällig aus dem Fenster und klebte seit diesem Zeitpunkt völlig beeindruckt an der Scheibe. Die Wolken beeindruckten mich und das helle Sonnenlicht, das durch die einzelnen Ritzen schien.

Der Flug verging schnell, und es wurde dunkel, als wir auf dem Flughafen in Palma angelangt waren. Dann begannen meine zwei Wochen auf Mallorca, die ich sicher nie wieder vergessen werde.

Am nächsten Tag erkundete ich die Gegend. Es war schön auf Mallorca. Das rauschende Meer, die heiße Sonne, die vielen Leute und alles andere, es gefiel mir. In unserem Hotel waren nicht unbedingt viele Leute, aber die meisten waren sehr nett. Nach einiger Zeit lernte ich ein Mädchen kennen. Sie hieß Nicole, aber alle nannten sie Nici. Ich war der Meinung, dass sich das verdammt nach T-Shirt anhörte, aber es war okay.

Eines Abends saßen wir in der Sofaecke und blätterten eine Zeitung durch, da setzten sich zwei Jungs zu uns, die wir im ersten Moment gar nicht wahr nahmen. Der kleinere fing nach kurzer Zeit an, uns immer mit »Hallo!« oder »Wie heißt ihr?« anzureden.

Irgendwann ließen wir uns dann erweichen und freundeten uns mit ihnen an. Das heißt, wir freundeten uns mit dem Typen mit dem blondierten Pony, also mit dem Kleineren, an. Der große Braungebrannte mit einer Sonnenbrille hielt sich aus unseren Gesprächen raus. Mit der Zeit bekamen wir mit, dass er Kevin und der Kleine Benny hieß.

Das Problem an der ganzen Sache war, dass Benny und Nici sich sehr gut verstanden, und ich mir meistens etwas verloren vorkam. Das war auch der Grund, weshalb ich lieber allein mit meinem Walkman am Pool blieb.

Kevin lag allerdings auch immer am anderen Ende des Pools auf seiner Liege und starrte ins Leere. Er war damals ziemlich down, wegen der Scheidung seiner Eltern, wie ich später erfahren habe. Jedenfalls haben wir irgendwann begonnen, miteinander zu reden und hatten nach drei Stunden immer noch kein Ende gefunden. Worüber wir sprachen, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass es in diesem Augenblick unheimlich interessant war. Ich will damit nicht sagen, dass ich auf Kevin stand, denn eigentlich war er nicht gerade … schön, ist vielleicht das richtige Wort. Ich will nur sagen, dass es gut getan hat, mit ihm die Zeit totzuschlagen. Meine Großeltern störte nicht meine ständige Abwesenheit.

Damals hätte ich mir jedenfalls nicht träumen lassen das ich nach fast einem Jahr immer noch Kontakt zu einer Person habe, die ich ganz zufällig kennengelernt hatte.

 

Horrortrip ins Kino

Es war Nacht. Das heißt ,es war für meine Verhältnisse noch recht früh, es war kurz nach elf. Etwas allein stand ich vor dem Kino. Wo blieben nur die anderen? Hatten sie den Termin verschlampt? Oder war ich zu früh? Ich warf einen ungeduldigen Blick auf die Armbanduhr und machte die grausame Erfahrung, dass ich eine Viertelstunde zu spät war.

»Verdammt«, entfuhr es mir. Ich riss genervt die Tür auf und ging zu den Kassen.

»Einmal bitte in ‚Eiskalte Engel‘«, raunte ich heiser durch die Glasscheibe.

»Der hat schon vor zehn Minuten angefangen«, sagte die Kassirerin.

»Ich weiß«, knirschte ich und legte ihr einen Zehnmarkschein hin.

Sie zog ihre schmalen Augenbrauen hoch und gab mir ein Ticket. Außer ihr und mir war niemand mehr in der Vorhalle.

Ich begann, mich zu beeilen und rannte schon fast zu dem Kino. In der Eile drehte ich hastig den Schein hin und her und erkannte »Kino 9«.

Wieder einmal riss ich die Tür auf und schaute mich um. Im ganzen Kino saßen nur zwei Personen. Ein Mann und eine Frau, völlig in schwarz gekleidet mit jeder Menge Piercings und bleichen Gesichtern. Ich fand sie jedenfalls gruftiemäßig. Meine Clique sah ich allerdings nicht. Vielleicht kämen sie ja zu spät.

Ich entschloss mich, einfach irgendwo Platz zu nehmen. Der Film schien schon eine Zeit lang zu laufen. Ich sah auf die Leinwand und aß geistesabwesend mein Popkorn. Nach einiger Zeit musste ich feststellen, dass der Film ziemlich blutrünstig war. Die Leinenwand war praktisch von Blut überströmt. Das war meiner Meinung nach »Der Exozist« und nicht »Eiskalte Engel«.

Die beiden Grufties vor mir lachten gemein, als auf der Leinwand ein Arm durch die Kante flog. Ich saß da und ekelte mich zu Tode, als sich ein Mann seinen Revolver in den Mund steckte, abdrückte, und sein Hinterkopf durchgepustet wurde. Mein Popkorn begann lasch zu schmecken.

Ich tippte die Frau vor mir leicht mit dem Finger an und wisperte: »Entschuldigung, aber ist das nicht ‚Der Exozist‘?«

Ich bleiches Gesicht drehte sich zu mir um. Ihre Augen funkelten mich so wütend an, dass ich mich fluchtartig erhob und schnell das Weite suchte.

Draußen stand ich wieder ganz alleine, nur mit der Kartenverkäuferin, in der Eingangshalle. Sie starrte mich an, und dann widmete sie sich wieder ihren Fingernägeln und ihrer Nagelfeile.

Ich nahm verwirrt meinen Kinoschein hervor und stöhnte auf, als ich bemerkte, dass anstatt der Sechs eine Neun zu sehen war. Ich hatte ihn verkehrt herum gehalten und war im falschen Kino gewesen. Seufzend ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und beobachtete die Blondine weiter. Irgendwann reichte es mir, und ich ging.

Jetzt war es kurz nach zwölf Uhr. Ich lief die Straße entlang und war etwas fertig, weil ich meine Leute nicht getroffen hatte. Ich blieb stehen und wollte für einen Moment die stille Nacht genießen. Ich sog Luft ein und hielt den Atem an. Hinter mir raschelte es. Was war das? Dann hörte ich Schritte.

Ruckartig drehte ich mich um und sah in ein blasses Gesicht. Ich hatte vergessen zu atmen und hustete auf einmal los.

Die blasse Gestalt war kaum älter als ich und sah schrecklich traurig aus. »W-was ist?« raunte er.

»Hä? Was willst du!?« fragte ich verdutzt.

Er zog den Ärmel seiner Jacke hoch, und ich starrte auf einen Armstummel. Ich wollte schreien, aber es kam kein Ton aus meinem Mund. Als nächstes grinste er und zog die schwarze Mütze vom Kopf. Er drehte sich um. Ich sah auf einen durchgepusteten Hinterkopf.

Jetzt löste sich mein Knoten im Hals und ich schrie. Das heißt, es war eher ein heiseres Krächzen. Ich drehte mich um und rannte davon. Ich hatte aufgehört zu schreien denn es kostete mich viel Kraft.

Nach einer Weile hörte ich keine Schritte mehr hinter mir. Ich setzte mich auf eine Bordsteinkante und verschnaufte eine Weile. Was für eine verrückte Nacht, dachte ich mir und lehnte mich zurück. Ich schloss die Augen und entspannte mich. Doch als ich nach einiger Zeit wieder meine Augen öffnete, stand der Junge vor mir mit einem Revolver in der Hand. Er zielte auf mich. Ich wollte gerade aufspringen, doch da drückte er ab.

 

Die Spiegelstraße

Es ist schon etwas länger her, aber ich erinnere mich noch genau daran. Damals bin ich umgezogen. Und zwar in die Spiegelstraße. Von Anfang an hatte ich nie dorthin gewollt, denn da begann mein Unglück. Den ersten Satz, den ich herausbrachte, als mir meine Eltern mein neues Heim zeigten war: »Oh, mein Gott, wie schrecklich.«

Es war ein total heruntergekommener Ort. Die Straße war nicht besonders groß. Es gab ein paar alte Häuser mit zertrümmerten Fenstern und runterbröckelndem Putz. In einem dieser Häuser wohnte ich dann. Nur mit dem Unterschied, dass die Fenster noch einigermaßen ganz waren. Mein Zimmer war auch recht gemütlich, aber es kam mir vor, als ob ich der einzige normale Mensch in der Straße war. Es hört sich zwar egoistisch an, aber es war so. Meine Eltern waren nicht normal, weil sie die Idee hatten hierher zu ziehen, mein Bruder war nicht normal, weil Geschwister nie normal waren, und sonst kannte ich die anderen Leute aus der Spiegelstraße nicht.

Oft lief ich draußen rum und versuchte, mit anderen Menschen hier Kontakt aufzunehmen, aber es gelang mir nicht. Ich ging immer in der Spiegelstraße spazieren, und das lief dann meistens so ab:

Ich: »Hallo, wer bist du? Wohnst du auch hier?«

Er: »Ja, leider. Brauchst mich nicht zu kennen. Ciao.«

Die Leute legten einfach keinen Wert auf Gesellschaft, nur einmal ist es mir gelungen, dort Bekanntschaft zu finden. Doch das hatte mein Leben dann endgültig aus der Bahn geworfen. Ich lief wie immer durch die Straßen und schaute in die leeren, verschmutzten Fensterscheiben. Da erblickte ich ein Mädchen. Ich schaute sie an und verkniff mir die Frage, wer sie war.

Auf einmal meinte sie: »Wer bist du?« Sie stand meiner Meinung nach hinter dieser Scheibe, und ich hätte sie nicht hören können.

»Ich bin ein Mensch«, antwortete ich zerknirscht.

Sie nickte.

»Und du?« fragte ich.

Sie sah mich schräg an, und auf einmal war sie verschwunden.

Ich schaute mich verdutzt um und ging schließlich in das Haus. Ich hörte die Stimme des Mädchens: »Hier bin ich, komm nur herauf!«

Ich folgte der Stimme und ging die schmale Treppe hinauf. Oben schloss sich die Tür hinter mir.

»Wo bist du?« fragte ich ängstlich.

»Hier!« tönte die Stimme aus einem anderen Raum, von dem grünes Licht unter dem Türspalt herausschien.

Ich drückte langsam die Klinke herunter und betrat dann den Raum. Ich konnte nichts mehr erkennen, denn ich wurde geblendet. An das Danach kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich erwachte jedenfalls als Seele und nicht als Mensch. In einer Fensterscheibe gefangen. Ich sah hinaus und sah ein Mädchen, das aussah, wie ich ausgesehen hatte. Sie lachte mich hämisch an, denn nun war sie frei, und ich war nur noch ein Spiegelbild von einem jeden, der sich hier davor stellte.

 

Ich mag zwei Menschen, die sich hassen

Dieses ganze Drama hängt eigentlich mit zwei Menschen zusammen, die ich sehr mag. Und das Problem besteht aus der Tatsache, dass sich diese beiden Personen absolut nicht leiden können.

Ich fange mal mit Oli an. Oli ist mein bester Kumpel, und ich kenne ihn erst seit diesem Schuljahr, da er in meine Klasse geht. Im Großen und Ganzen versteht sich unsere Klasse sehr gut, deshalb mag ich ihn sehr. Doch es gibt immer ein paar Grüppchen, die sich dann zusammenschließen. So ist es auch bei uns. Robert, Sandra, Oli, einige andere Leute und ich sind auch so etwas. Früh fahre ich meistens mit seinem Bus mit, und wir hören viel Musik, hauptsächlich »die Ärzte«. Das ist so eine von den vielen kleinen Sachen, die verbinden.

Dann ist da aber auch noch meine Freundin Pauline. Sie ist ganz okay, sonst wäre ich jetzt sicher nicht mit ihr hier. Wir kennen uns auch erst seit Anfang dieses Schuljahres. Manchmal, oder besser gesagt oft, nervt mich ihre Sturheit und dieser ständige Wunsch, den eignen Kopf durchzusetzen. Was mich aber am meisten berührt, ist ihr Hass auf Oli. In den Hofpausen stehen wir oft alle zusammen herum. Oli und Pauline stehen dann meistens da und schnauzen sich gegenseitig voll. Ich kenne den Grund nicht, weshalb sie sich nicht leiden können, sie sind sich anscheinend einfach unsympathisch. Vielleicht liegt es auch daran, dass beide einen Dickschädel haben. Aber das mit dem kleinen Unterschied, dass Oli immer im letzten Moment den Schwanz einzieht und Robert rennt. Pauline hingegen ist es zuzutrauen, dass sie ihm irgendwann eine reinwürgt, weil ihr der Kragen platzt.

Was ich mit diesem Geschriebenen eigentlich nur sagen wollte, ist: Dass es nicht sehr leicht ist, wenn man zwei Menschen gern hat, die sich absolut nicht leiden können.