Patrick Rudelstorfer (11)

Die Hirsche sind los

»Oh ja, dem spielen wir jetzt einen Streich«, sagte Franzi energisch.

»Jawohl«, bekräftigte Susi, »er hat sich unseren Spielball, ohne zu fragen, genommen.«

Susi und Franzi sind Zwillinge und erst sechs Jahre alt. Ihr Lieblingsspielzeug ist der rotbraun und gelb getupfte Spielball, den sie eigentlich niemandem außer ihrer großen Schwester Anna gaben. Doch ihr Nachbar, der kleine Johann, hat sich den Spielball ohne zu fragen in sein Haus mitgenommen. Susi und Franzi wollten ihm dafür einen Streich spielen, und sie wussten auch schon was.

Es hatte mit den Hirschen beim Nachbarn zu tun, die in einem Gehege friedlich grasten. Susi und Franzi schlichen um das riesengroße Gehege herum und marschierten bewaffnet mit Papas Beißzange direkt zum Gatter im Zaun. Jetzt wurde gewerkt und gewerkt. Abwechselnd Franzi und dann wieder einmal Susi.

»Endlich«, schnaufte Susi und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die beiden hatten nämlich das Drahtgitter im Gatter durchgezwickt und zur Seite gebogen. Anscheinend wollten sie die Hirsche freilassen…

Im Haus des Nachbarn hatte man keine Ahnung von dem was draußen geschah. Johann spielte mit dem gestohlenen Spielball. Seine Eltern waren bei der Arbeit, um Himbeeren zu pflücken. Während dessen waren Susi und Franzi dabei, eine Spur vom Gatter bis in die Nähe der Hirsche mit Hirschleckerlis auszulegen, die ihnen der Nachbar, welcher übrigens Herr Schuster heißt, immer gab. Als sie damit fertig waren, versteckten sie sich hinter einem etwas entfernten großen Strauch und beobachteten, was nun geschehen würde.

Zunächst tat sich erst einmal gar nichts. Schon bald schnüffelte ein neugieriger Hirsch an den Leckerlis und folgte der Spur. Jetzt kamen auch die anderen Hirsche und folgten der lecker riechenden Leckerspur. Schon bald waren einige Hirsche nicht mehr im, sondern außerhalb des Geheges.

Susi und Franzi grinsten hämisch und verschwanden dann in ihrem Haus. Um diese Zeit kam nämlich Herr Schuster immer, um seine Lieblinge zu füttern, und so war es auch diesmal. Herr Schuster kam aber nicht allein, sondern mit Johann, der den rotbraun und gelb getupften Spielball unter seinem Arm trug. Herr Schuster wollte gerade nach seinen Hirschen schreien. Doch als er seinen Kopf zur Seite drehte, sah er, dass sie gerade anspaziert kamen. Außer sich vor Entsetzen schrie er: »Um Gottes Willen, die Hirsche sind ausgekommen!« Sofort breitete er die Hände aus und lief auf die Hirsche zu, um sie wieder ins Gehege zu schaffen.

Johann sah zu und wusste nicht, was er tun sollte. Er war jedoch nicht der einzige, der zusah, denn Susi und Franzi guckten von ihrem Zimmerfenster heraus und hielten sich die Bäuche vor lachen. Herr Schuster sah nämlich zu komisch aus in seinen Stiefeln, über die er immer wieder stolperte.

Es dauerte bis zum Abend, erst dann war der letzte Hirsch im Gehege. Doch Herr Schuster hatte auch dann noch keine Ruhe. Jetzt kam der Übeltäter an die Reihe. »Du lästige Wanze, du!« schimpfte Herr Schuster auf den verdutzten Johann ein. »Ich hatte immer geglaubt, du wärst der bravste Junge vom Dorf. Und nun das!«

»Aber Vater, ich ich ich ich…«

»Höre auf, mir deine Ausrede vorzustellen. Morgen wirst du für deine Tat noch eine saftige Strafe bekommen, das schwöre ich dir.«

Der kleine, völlig geschaffte Johann ließ den Spielball, ohne dass er es bemerkte, los und schwankte verdutzt ins Hans. Sofort rasten Franzi und Susi los, um sich ihren Spielball zu schappen.