Christina Lechner (13)

Auf in die Fremde!

Hallo, ich heisse Sadet und komme aus Albanien. Ich sitze gerade in meinem Zimmer und neben mir meine Nachbarin und beste Freundin Sarah.

»Warum bist du eigentlich nach Österreich gekommen?« fragt sie.

»Soll ich dir die Geschichte von Anfang an erzählen?« sage ich.

Sarah stimmt mir mit einem Nicken zu, und ich beschließe, ihr alle Einzelheiten zu erzählen…

»In Albanien war Krieg. Unser Haus wurde zerstört. Deshalb lebten wir in einem Lager und wir bekamen nur wenig zu essen. Meine Eltern sagten, dass es das beste für mich wäre, wenn ich zu einer Pflegefamilie nach Österreich oder nach Deutschland käme. Am Anfang war ich dagegen, doch da es mir immer schlechter und schlechter ging, beschloss ich, in den Norden zu fahren.

Als ich mich von meinen Eltern verabschieden musste, weinte ich sehr, denn ich wusste nicht, wann ich sie wieder sehen würde. Meine Eltern sagten mir zum Abschied: »Keine Angst, Kind! In spätestens einem oder in zwei Jahren sehen wir uns wieder! Du wirst schon sehen, es gefällt dir sicher gut im reichen Österreich!« Dann musste ich gehen.

Ich wurde mit ein paar anderen Kindern in einen alten, rostzerfressenen Bus gesteckt und schon ging es los. Ich winkte meinen Eltern mit Tränen in den Augen zu. Zögernd hob meine Mutter die Hand, doch dann zog mein Vater an ihrem Mantel und schließlich kehrten sie mir den Rücken zu und verschwanden hinter einem Zelt. Auf in die Fremde. Was würde mich wohl erwarten?

Neben mir saß ein Mädchen. Sie hieß Maria. Sie fragte mich: »Waren das deine Eltern, denen du dort zugewunken hast?«

Zögernd antwortete ich: »Ja. Aber, wo sind denn deine Eltern?«

»Ich habe keine Mutter und keinen Vater mehr!« schluchzte Maria und blickte mit ihren großen braunen Augen zu Boden. Als ich das hörte, dachte ich erst einmal nach: »Eigentlich muss ich ja froh sein, denn ich habe Eltern!« Auf in die Fremde.

Als langsam die Sonne hinter einem Berg verschwand und es immer dunkler wurde, döste ich so vor mich hin, doch Maria ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Wir beide sprachen kein einziges Wort. Nach einiger Zeit machten wir einen Zwischenstop und alle bekamen etwas zu essen und zu trinken. Man gab uns Brot und ein Glas Wasser. Ich riss immer ein Stück nach dem anderen von dem Brot ab, doch Maria stopfte sich das Gebäck auf einmal in den Mund und im Nu hatte sie das Glas ausgetrunken. Als sie fertig war, schaute Maria wie gebannt auf mein halbes Brot. Da teilte ich es in der Mitte und hielt ihr ein Stück hin. Maria zog es mir aus den Händen und bedankte sich mit leiser Stimme und schaute mich mit einem Lächeln im Gesicht an. Kaum hatten wir fertig gegessen, ging es schon wieder weiter. Wir waren nun schon zehn Stunden unterwegs. »Endlich, wir sind in Österreich. Alles ist so grün, und die schönen Häuser!« dachte ich mir. Auf in die Fremde.

Als wir in eine Stadt kamen, betrachtete ich neugierig die ganze Umgebung. Alle hatten so schöne Kleider an! Und in der Dunkelheit leuchtete die ganze Stadt.

Plötzlich hielt der Bus an. Ein Mann sagte, wir sollen aussteigen, und dies taten wir auch. Vor uns standen viele Leute. Auf einmal schob mich ein Mann zu einer Frau hin und sprach diese an. Da ich albanisch sprach, verstand ich nichts, was die beiden sagten außer »Barbara Köfler«, den Namen der Dame. Die Frau machte auf mich einen sehr netten Eindruck. »Ist das meine Pflegemutter?« fragte ich mich. Barbara zeigte auf ein Auto, was so viel hieß wie: »Bitte einsteigen!« Mit zögernden Schritten ging ich auf das Auto zu. Die Dame öffnete mir die Tür, und ich stieg ein. Schnell sprang Barbara in das Fahrzeug und schon ging es los. Auf in die Fremde.«

»Was war denn mit Maria?« fragt Sarah.

»Als ich durch das Fenster schaute, sah ich sie neben einem Mann stehen, sie sah sehr glücklich aus. Ich freute mich für sie, denn nun hatte sie auch einen Vater und vielleicht auch eine Mutter, so wie ich. Da musste ich an meine Eltern in Albanien denken: »Was machen sie zu diesem Zeitpunkt gerade? Denken sie an mich? Wann kann ich sie wieder sehen?« Eine Träne kullerte über meine Wange, doch ich wischte sie sofort mit meinen Fingern weg, denn ich schämte mich vor dieser Dame. Meine Eltern hatten früher auch ein Auto, na ja Auto konnte man das nicht nennen, doch auch dieses wurde zerstört. Die Frau schaute des öfteren durch den Rückspiegel und lächelte mich an. Plötzlich blieb das Auto stehen. Die Dame stieg aus dem Auto, öffnete die Türe neben mir, nahm mich bei der Hand und ging mit mir vor die Haustür. Schnell zog sie einen Schlüssel aus ihrem Hosensack und machte das Tor auf. Wir betraten den Vorraum und danach das Wohnzimmer. Ich war begeistert! Die schönen Möbel, alles war so hell. Auf einmal kam eine kleine schwarzweiße Katze auf mich zu. Ich kniete nieder und streichelte das Tier. Nach kurzer Zeit stand ich jedoch wieder auf, denn ich wollte unbedingt noch mehr von dem Haus sehen. Dies taten wir auch, wir gingen eine Treppe hinauf. Dort brachte Frau Köfler mich in ein Zimmer. Es war wunderschön, so viele Fenster, ein weiches, großes Bett und so eine schöne Aussicht. Man konnte die ganze Stadt sehen. Barbara nahm mir meinen Rucksack ab und legte ihn auf das Bett. Sie deutete mit ihren Händen so lange umher, bis ich endlich kapierte, dass das mein Zimmer war. Ich war überglücklich!

Die Dame steckte mich in die Badewanne und wusch mich gründlich. Ich genoss das warme, reine Wasser. In Albanien konnte ich mich nur mit kaltem und dreckigem Wasser duschen. Als ich fertig war, zog ich das Gewand an, welches mir die Frau gab. Jeans und ein wunderschönes blau-gelb gestreiftes Hemd. Nun ging ich mit meiner Pflegemutter in die Küche. Ich setzte mich auf einen Stuhl und sah Barbara beim Kochen zu. Kurz darauf stellte sie einen Teller vor mich auf den Tisch, gab mir Besteck und etwas zu trinken. »Das ist ein Service!« dachte ich mir. Die Dame gab mir Reis, Kartoffeln, Salat und Fleisch auf den Teller. Schnell stopfte ich alles in mich hinein, bis mir schlecht war.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Barbara lief schnell in den Vorraum und öffnete sie. Ich konnte nicht sehen, wer gekommen war, doch an der Stimme konnte ich erkennen, dass es ein Mann war. Kurz darauf kam Barbara zurück und neben ihr stand ein gutaussehender junger Herr. Mit einem Lächeln im Gesicht blinzelte er mir zu. Er schüttelte mir die Hand und sagte irgend etwas auf Deutsch. Ich verstand nur Bahnhof, ausser: »Köfler Marco« Das bedeutet wahrscheinlich, dass er der Mann von Barbara sei, dachte ich mir.

Die beiden gingen in das Wohnzimmer. Kaum hatte ich fertig gegessen, stand ich auf und schlich zu ihnen. Da es schon sehr spät war, brachte mich meine Pflegemutter ins Bett. Ich bekam einen roten Schlafanzug, welchen ich sofort anzog. Als ich unter die schöne, warme Decke geschlüpft war, gab mir die Dame einen Kuss auf die Wange. Ich spürte wie ich rot anlief und machte meine Augen zu. So ist es also in der Fremde.

Am nächsten Tag in der Früh weckte mich die Hand von Barbara mit einem Rütteln auf. Gleich darauf hüpfte ich aus meinem Bett, und sie nahm mich bei der Hand und brachte mich in die Küche. Dort hatte sie schon ein Essen für mich hergerichtet. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl und aß das Frühstück. »Wo ist bloß Herr Köfler?« fragte ich mich, »Vielleicht ist er schon wieder bei der Arbeit?«

Als ich fertig war, musste ich mir meine Zähne putzen und danach ging es los. Meine Pflegemutter und ich fuhren mit dem Auto in die Schule. Kurz darauf betraten wir das Schulgebäude. Ich staunte, wie sauber und bunt es in diesem Haus war. Und so groß! Wir gingen gemeinsam in das Sekretariat.

Barbara redete mit der Sekretärin. Bald darauf verließ die Dame den Raum und kam mit einem Mann wieder. Er gab mir die Hand und sagte: »Herr Waldmaier!« und zeigte dabei mit seinem Finger auf sich. Ich kapierte schnell, dass er mein Klassenlehrer war. Er war nett – aber fremd.«

»Eine Frage: Bist du in Albanien auch in die Schule gegangen?« fragt mich Sarah.

»Ja! Naja, diese Bruchbude konnte man eigentlich nicht Schule nennen! Auch sie wurde von einer Bombe zerstört. Im Flüchtlingslager hatte ich auch Unterricht, jedoch in einem Zelt, und sehr oft fiel die Schule aus. Dafür hatten sie immer eine Ausrede. Aber wenigstens konnte ich alle verstehen und niemand war mir fremd.

Wo war ich schnell? Ach ja! Meine Pflegemutter winkte mir zu, und schon war sie hinter der Tür verschwunden. Der Lehrer ging mit mir aus dem Raum und er brachte mich in eine Klasse. Als wir vor der Tür standen, hörte ich lautes Quatschen und ein ständiges Kichern. Als Herr Waldmaier die Schnalle nach unten drückte und wir den Raum betraten, kehrte plötzlich völlige Stille in der Klasse ein. Alle Kinder starrten mich an, als ob ich etwas verbrochen hätte. Der Lehrer sprach meinen Namen aus, den Rest verstand ich jedoch nicht. Die Fremde.

Nach einiger Zeit brachte mich Herr Waldmaier zu einem Tisch in der letzten Reihe. Ich setzte mich auf den Sessel, verschränkte die Arme und überkreuzte meine Beine. Alle Kinder drehten sich nach mir um, doch als der Lehrer etwas sagte, setzten sich alle wieder aufrecht auf den Stuhl. In der Pause sprach mich niemand an, und keiner beachtete mich. Dennoch, während der Stunde konnte keiner seine Augen von mir lassen. Wahrscheinlich hatten alle Angst, sich mir zu nähern, und das nur weil ich eine »Ausländerin« bin. Ich blieb einfach auf meinem Sessel sitzen. Ich kam mir sehr fremd vor.

Eines Tages bat mich mein Lehrer, ein albanisches Gedicht mitzubringen. Ich musste es den Schülern vorlesen, und Herr Waldmaier verlangte von den Kindern, dieses zu lernen. Als die Schüler das Gedicht vor sich auf dem Tisch liegen hatten, schauten sie blöd drein. »Das sollen wir lernen? Das schaffen wir ja nie!« meinten die Kinder. Langsam begriffen sie, wie schwer ich es hatte, als ich in ein Land kam, wo ich niemanden kannte, und keiner mich verstehen konnte. Eine andere Sprache musste ich auch lernen! Es war wirklich nicht leicht für mich!

Ich lernte immer besser Deutsch und die Schüler verstanden sich langsam mit mir, und ich hatte auch viele Freunde. Was heisst: ich hatte! Ich meine natürlich: Ich habe viele Freunde. Tja, das war meine Geschichte, Sarah. So kam ich nach Österreich, und so lernte ich alles kennen. Jetzt fühle ich mich nicht mehr so fremd wie am Anfang.«

»Was ist jetzt überhaupt mit deinen richtigen Eltern?« möchte Sarah noch wissen.

»Sie werden in ungefähr zwei Monaten selber nach Österreich kommen, haben sie in einem Brief geschrieben. Zur Zeit leben sie in einer kleinen Wohnung in der Nähe von Kukes, doch wenn sie das Geld haben, werden sie zu mir fahren!« erkläre ich Sarah. »Sie werden es sehr schwer haben in der Fremde.«