Sarah Kneidinger (13)

Fremd

Neugierig starrten sie mich an. Die meisten Blicke waren fragend.

»Stell’ dich doch einmal vor«, meinte Fräulein Mayer freundlich.

»Ähm… hallo, ich heiße Aisha und wohne in… äh… Linz«, erzählte ich und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen, weil ich so stotterte. Na ja, es war ja auch mein erster Tag in dieser Klasse.

»Aisha, setz’ dich doch zu Lisa. Sie ist Klassensprecherin und wird dir in den ersten Tagen helfen, dich einzuleben«, meinte die Lehrerin und deutete auf ein hübsches Mädchen mit langen, rotbraunen Haaren und olivgrünen Augen.

»Wieso gerade neben mich?!« rief sie empört. »Ich will doch nicht neben einer Ausländerin sitzen!«

Alle Schüler lachten. Alle! Ich spürte die Tränen in mir aufsteigen. Verkrampft biss ich mir auf die Unterlippe. Bloß keine Schwäche zeigen! Man musste sie ignorieren, dann hörten sie bestimmt bald auf Ich hatte diese Situation schon so oft erlebt. Dreimal schon waren meine Familie und ich umgezogen. Und jetzt war ich auch noch sitzen geblieben! Mathe war aber auch zu schwer!

Wieso waren die meisten Menschen nur so rassistisch? Eigentlich war ich doch gar keine Ausländerin. Ich war schließlich in Österreich auf die Welt gekommen!

Mit gesenktem Blick ging ich auf meinen Platz. Doch kaum hatte ich mich gesetzt, fing Lisa wieder an: »Igitt, die stinkt ja fürchterlich!« kreischte sie. Wieder lachten alle.

»Lisa! Halt’ deinen Mund!« schimpfte die Lehrerin.

»Ich bin ja schon ruhig«, murmelte diese. Sie sah mich noch einmal verächtlich an. Danach würdigte sie mich den Rest des Tages keines Blickes mehr.

Endlich läutete es! Nach sechs anstrengenden Schulstunden und vielen bösen Kommentaren durfte ich nach Hause gehen. Traurig darüber, wie man mich aufgenommen hatte, trottete ich zur Straßenbahnhaltestelle. Auf der Anzeigetafel konnte ich lesen, dass ich zwölf Minuten warten musste. Genervt holte ich ein Buch aus meiner Schultasche und begann zu lesen. »Das Schweigen der Lämmer« hieß der Titel des Buches. Eigentlich war es für Erwachsene, aber mir gefiel es. Lesen war meine Lieblingsbeschäftigung.

Endlich kam die Straßenbahn. Es waren einige Sitzplätze frei, doch ich blieb stehen. Die Türen schlossen sich. Jetzt musste sie gleich losfahren. Plötzlich wurde weiter vorne noch eine Tür geöffnet und sechs Jugendliche stürzten in die Straßenbahn. Sie lachten und kreischten. Es waren zwei Mädchen und vier Jungen. Ich erstarrte. Eines der Mädchen war Lisa! Sie hatte eine Zigarette in ihrer rechten Hand und eine Dose Red Bull in der linken. Ich war entsetzt: Sie rauchte! Dabei war sie doch erst dreizehn! Die vier Jungs standen um sie herum und flirteten wild mit ihr. Plötzlich sah Lisa zur Seite und entdeckte mich. Ein hämisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie beugte sich zu einem der Jungs und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser grinste ebenfalls und sah in meine Richtung. Mir wurde ganz mulmig zumute. Doch weder Lisa noch der Junge kamen zu mir herüber. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Als ich aus der Straßenbahn ausstieg, wurde mir erneut schlecht: Lisa und ihre Freunde stiegen ebenfalls aus! Ich musste noch ca. einen Kilometer gehen, dann war ich bei unserem Haus. Ich ging schnell- wie immer. Auf einmal hörte ich Schritte hinter mir. Ich ignorierte sie, drehte mich nicht um. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich wirbelte herum. Direkt vor mir stand Lisa.

»Was willst du?« fragte ich, ohne mir anmerken zu lassen, wie viel Angst ich hatte.

»Ich will, dass du verschwindest! In meiner Klasse ist kein Platz für Müllfresser!« fauchte Lisa mich an.

»Deine Klasse?! Es ist nicht deine Klasse«, widersprach ich ihr.

»Halt’ gefälligst deine Klappe! Du hast hier gar nichts zu melden! Hau einfach ab! Ich will, dass du zurück in dein Land gehst und uns in Ruhe lässt, verstanden?!« schrie sie mich an.

»Und du glaubst, nur weil du das so willst, geht das so einfach?! Du hast ja einen Knall!« konterte ich.

Lisa funkelte mich wütend an. »Was fällt dir ein, so mit mir zu reden?!« kreischte sie.

»Lass mich in Ruhe!« brüllte ich, »Du bist ja verrückt!«

Das hätte ich wohl nicht sagen sollen. Ich sah nur mehr, wie Lisa ihre Hand hob, ausholte… und mir einen Schlag ins Gesicht verpasste. Erschrocken taumelte ich zurück. Ich war total durcheinander und vergaß deshalb auch wegzulaufen. Wieder ein Fehler! Denn nun hagelte es Schläge und Tritte. Ich war normalerweise nicht schwach, aber Lisas Ausbruch hatte mich total überrascht. Ich stolperte, fiel auf den Boden. Lisa trat erbarmungslos auf mich ein. Ich wollte schreien, konnte aber nicht. Meine Kehle war ausgetrocknet.

Plötzlich hörte Lisa auf. Ich wagte anfangs nicht mich zu bewegen. Nach einer Weile sah ich auf. Lisa stand schwer atmend vor mir. Sie wirkte riesig und bedrohlich. Plötzlich merkte ich, dass sie ein Messer in der Hand hatte. Ich hatte wahnsinnige Angst. Lisa beugte sich über mich. Hasserfüllt starrte sie mich an. »Verschwinde!« flüsterte sie. »Verschwinde, oder ich bringe dich um!« Dann ging sie langsam und ohne sich noch einmal umzudrehen weg.

Vorsichtig richtete ich mich auf. Die Tränen rannen mir über die Wangen. Jede Bewegung tat weh. Zitternd holte ich meinen Taschenspiegel aus meinem Rucksack. Ich erschrak, als ich mich selbst im Spiegel sah: Meine Lippe war offen, aus meiner Nase rann Blut. Mein ganzes Gesicht war geschwollen. Jetzt bekam ich einen richtigen Weinkrampf. Warum? Warum nur? Warum hatte sie das getan? Heulend schleppte ich mich nach Hause.

Drei Stunden später lag ich völlig erschöpft auf meinem Bett. Ich war jeden Tag von sieben morgens bis acht Uhr abends allein zu Hause. Ich wollte duschen, doch das heiße Wasser schmerzte zu sehr. Ich konnte nicht denken, nicht schlafen und auch nicht mehr weinen. Ich war schon ganz ausgetrocknet.

Ich weiß nicht, wie lange ich so liegen geblieben bin; die Augen starr auf den Boden gerichtet, bewegungslos, wie wenn ich gelähmt wäre. Um fünf Uhr kam mein zwölfjähriger Bruder nach Hause. »Hi! Was gibt’s zu essen?« rief er fröhlich die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Oh Mist! Darauf hatte ich komplett vergessen! Schnell sprang ich auf. »Au!« schrie ich und ließ mich wieder aufs Bett fallen. Zusammengekrümmt blieb ich liegen. Meine Rippen schmerzten furchtbar. Da kam mein Bruder aufgebracht in mein Zimmer gestürmt.

»Was ist denn los?« rief er.

Ich erschrak: Er durfte nichts merken! Ich biss die Zähne zusammen und setzte mich wieder auf. »Nichts, nichts. Ich… nichts. Es geht schon wieder«, log ich. Doch damit kam ich nicht durch.

»Um Himmels Willen, dein Gesicht ist ja ganz blau! Hast du dich etwa geprügelt?« schrie mein Bruder entsetzt. Ich versuchte zu lächeln, doch es gelang mir nicht wirklich. Es wurde eher ein schiefes Grinsen. »Nein, nein!« beschwichtigte ich ihn. »Ich bin nur… ich bin… ich bin gegen einen Laternenpfahl gerannt!«

»Gott, bist du tolpatschig!« stöhnte er. Dann verschwand er aus meinem Zimmer. Ihn zu überzeugen war leicht gewesen. Aber ob meine Eltern mir diese Lüge auch abnehmen würden?

Erleichtert schlug ich die Tür meines Zimmers zu. Sie hatten es geglaubt. Sie hatten mir die Lüge abgenommen. Sie glaubten wirklich, dass ich gegen einen Laternenpfahl gerannt war. Gott sei Dank! Ich schälte mich aus meinen Klamotten und schlüpfte in meinen Pyjama. Es war erst neun Uhr, aber ich war schon total müde und erschöpft. Trotzdem schlief ich erst zwei Stunden später ein.

»Nein!« Mit einem entsetzten Aufschrei fuhr ich hoch. Verwirrt sah ich mich um. Erst nach einigen Minuten kapierte ich, dass ich einen Alptraum gehabt hatte. Keuchend sah ich auf meinen Wecker. Es war erst fünf Uhr, doch ich hatte keine Lust mehr zu schlafen. Obwohl ich schrecklich müde war, stand ich auf. Ich hatte sehr schlecht geschlafen. Viermal war ich aufgewacht. Mein Pyjama war total verschwitzt.

Leise schlich ich ins Bad. Außer mir war noch keiner wach. Logisch, um diese Uhrzeit! Ich sah in den Spiegel. Erschrocken wich ich zurück. Ich sah fürchterlich aus: Mein linkes Auge war blau, eine Lippe aufgeplatzt. Unter meinen Augen waren schwarze Ringe. Die Tränen schossen mir in die Augen. Wie sah ich bloß aus? Ich drehte mich um und lief zurück in mein Zimmer. Dort warf ich mich auf mein Bett. Von Schluchzen geschüttelt blieb ich mindestens zehn Minuten liegen. Dann stand ich wieder auf, zog mir meinen Pyjama aus und stellte mich vor meinen großen Wandspiegel. Mein ganzer Körper war mit blauen Flecken übersät.

Plötzlich ging meine Zimmertür auf. Erschrocken fuhr ich herum. Als ich sah, wer da ins Zimmer spaziert kam, atmete ich erleichtert auf. »Hast du mir einen Schrecken eingejagt!« rief ich vorwurfsvoll. Es war mein Hund Sunny. Ich kniete mich hin und kraulte ihn hinter den Ohren. »Wenn ich dich nicht hätte«, murmelte ich. Eine Träne kullerte über meine Wange. Sunny winselte. Er merkte es jedes Mal sofort, wenn es mir schlecht ging. »Jetzt muss ich mich aber anziehen«, wisperte ich und stand auf. Ja, wenn ich ihn nicht hätte!

Ein paar Minuten später stand ich angezogen in der Küche. Die Ringe unter meinen Augen hatte ich mit etwas Make-up überschminkt. Ratlos sah ich mich um. Was sollte ich jetzt machen? Ich hatte noch eine Stunde Zeit, bis ich zur Schule fahren musste. Meine Eltern und mein Bruder David mussten bald aufstehen. Ich machte Kaffee und deckte den Frühstückstisch. Ich selbst aß in der Früh nie etwas. Ich sah auf die Uhr: Viertel nach sechs. Noch eine dreiviertel Stunde. Ich konnte nicht ruhig sitzen. Ich musste mich bewegen, sonst würde ich durchdrehen. Ich schnappte mir Sunnys Leine, rief »Sunny, Gassi gehen!« und stürmte dann mit ihm zur Tür hinaus.

Es war noch dunkel draußen und herrlich kalt. Die Luft war klar und frisch. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke zu. »Komm, Sunny! Laufen wir ein Stück!« meinte ich und rannte auch schon los. Sunny lief laut kläffend neben mir her. Plötzlich blieb er stehen. Knurrend fletschte er die Zähne.

»Sunny, was ist denn los?« fragte ich.

Er knurrte nur noch lauter. Plötzlich hörte ich lautes Gelächter und eine Stimme, die etwas rief, was ich nicht verstehen konnte. Das störte mich aber überhaupt nicht, denn ich hatte die Stimme erkannt: Lisa! »Los, Sunny, wir gehen«, wisperte ich. Mein Herz raste wie verrückt. »Komm, Sunny. Komm schon!« Ich zerrte am Halsband. Mühsam konnte ich Sunny schließlich dazu bewegen, mit mir zu kommen.

Keuchend und verschwitzt kam ich zu Hause an.

»Wo warst du denn?« fragte mein Vater und sah mich verwirrt an.

»Ich… ich war mit Sunny spazieren«, stotterte ich.

»Zieh dich schnell um. Du musst doch in die Schule!« meinte meine Mutter.

»Ja, mach ich«, murmelte ich und lief die Treppen zu meinem Zimmer hinauf.

Mit klopfendem Herzen lief ich zur Straßenbahnhaltestelle. Was, wenn sie wieder hier war? Was sollte ich dann tun?

Sie war nicht da! Erleichtert stieg ich in die Straßenbahn ein. Die Türen schlossen sich. Die Straßenbahn fuhr los. Erst jetzt meldete sich meine Müdigkeit. Ich setzte mich nieder. Mir gegenüber saß ein verliebtes Pärchen, das sich gerade küsste. Ich lächelte gequält. Die zwei waren glücklich. Die brauchten keine Angst zu haben. Die hielten zusammen. »Nächste Haltestelle: Goethekreuzung«, ertönte eine Stimme. Ich musste aussteigen.

Das Klassenzimmer war noch fast leer. Ich setzte mich auf meinen Platz. Lisa war noch nicht da. Plötzlich kam ein total gutaussehender Junge zur Tür herein. »Ist das die 3E?« fragte er und sah mich hilflos an. Er hatte wunderschöne olivgrüne Augen.

»Ja«, antwortete ich.

»Aha. Na dann stell’ ich mich am besten gleich mal vor: Ich bin Florian, der Neue. Und wie heißt du?«

»Ich bin Aisha«, stammelte ich.

»Ist der Platz neben dir noch frei?«, fragte er. Einen Moment dachte ich an Lisa. Dann sagte ich: »Nein, tut mir leid. Aber weisst du was? Ich wollte mich sowieso woanders hinsetzten. Also, setz du dich hier her«, ich deutete auf meinen ursprünglichen Platz, »Und ich setz’ mich einfach woanders hin, okay?!« Ich nahm meinen Rucksack und setzte mich auf einen leeren Tisch.

»Wenn du meinst. Aber glaubst du, macht das deiner Freundin nichts aus, wenn du dich einfach so von ihr wegsetzt?« fragte er mich.

»Sie ist nicht meine Freundin! Ich kenne sie erst seit gestern«, erwiderte ich.

»Ach so! Du bist also auch neu! Na so ein Zufall! Mann, hab’ ich vielleicht Glück! Ich dachte, das ist hier so eine verschworene Klasse, die sich schon seit zweieinhalb Jahren kennt. Aber so… Da hab’ ich ja eh dich!« rief er erfreut aus. Ich wurde ganz rot und sah deshalb zur Seite. Da entdeckte ich Lisa, die gerade zur Tür herein kam. Starr schaute ich in ihre Richtung. Florian folgte meinem Blick.

»Wer ist das?« fragte er.

»Lisa. Sie ist Klassensprecherin. Sie ist… ich meine, war meine Banknachbarin«, antwortete ich ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Auf einmal sah sie in meine Richtung. Als sie mich erblickte, grinste sie mich böswillig an. Dann kam sie zu meinem Tisch. »Wie ich sehe hast du dich umgesetzt. Recht so. Ich habe deinen Gestank sowieso nicht mehr ausgehalten!« meinte sie mit kalter Stimme. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ich war so wütend. Wie konnte sie mich nur so behandeln? Florian, der etwas abseits stand, hatte anscheinend nichts davon mitbekommen.

»Übrigens sitzt jetzt jemand anderer neben dir«, sagte ich.

»Was? Du glaubst wohl, du kannst einfach so darüber bestimmen, wer neben mir sitzt! Na warte! Warte nur auf heute Nachmittag! Wie ich sehe, muss dein Hirn noch mal ordentlich durchgeprügelt werden! Das gestern hat dir wohl nicht gereicht!« fauchte sie zornig.

Auf einmal stand Florian neben ihr. »Hi! Du bist Lisa? Ich hab gehört, ich sitz’ jetzt neben dir. Ich hoffe das stört dich nicht!« sagte er.

Lisa beugte sich zu mir, grinste und flüsterte: »Jetzt schau dir mal diesen gutaussehenden Typen an. Klar, dass der sich nicht neben dich setzen will! So einer will neben einer richtigen Frau sitzen und nicht neben so einem Baby wie dir, das noch in die Windeln macht!« Dann drehte sie sich zu Florian um, lächelte und sagte: »Quatsch, das stört mich kein bisschen. Im Gegenteil! Ich freu’ mich, dass ich die da«, sie deutete mit dem Kopf auf mich, »dass ich die los bin!«

»Na ja, sehr gut befreundet seid ihr ja wirklich nicht!« lächelte Florian, nickte mir noch einmal zu und folgte Lisa dann auf seinen Platz.

Schnell rannte ich zur Straßenbahnhaltestelle. Ich wollte unbedingt vor Lisa dort sein. Ich wollte nicht schon wieder verprügelt werden.

»Aisha!« hörte ich auf einmal eine Stimme rufen. »Aisha!«

Genervt drehte ich mich um. Ein paar Meter hinter mir stand Florian. »Aisha! Aisha, warte!«

Ich blieb stehen. Florian rannte mir entgegen. »Was willst du denn? Mach schnell, ich hab’s eilig!« rief ich.

»Ich wollte dich fragen, ob du heute Abend Zeit hast. Ich dachte, wir gehen vielleicht ins Kino«, sagte er und lächelte mich an.

»Ja, gern. Wieso nicht?« antwortete ich.

»Super!« freute er sich, »Ich hole dich um halb acht ab, okay?«

»Okay. Ach, noch was: Wieso hast du gerade mich gefragt und nicht Lisa?« fragte ich zweifelnd.

»Weil sie nicht halb so nett ist wie du!« flüsterte er, drehte sich um und lief weg.

Glücklich stieg ich aus der Straßenbahn aus. Er hatte mich gefragt! Er hatte echt mich gefragt. Mich! Wow! Jetzt musste ich mich aber beeilen! Ich musste schließlich noch kochen und essen, und hübsch machen musste ich mich auch noch. Es war jetzt halb vier. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Irgend jemand packte mich mit eisernem Griff. »Au!« schrie ich auf. »Halt deinen Mund!«zischte eine Stimme. Ich wusste sofort, wer es war: Lisa!

»Nein!« wisperte ich. Lisa schien rasend wütend zu sein. Sie trat und schlug, zwickte und biss, spuckte mich an und riss mich an den Haaren.

»Hör auf! Hör auf!« schrie ich.

»Du Flittchen! Du elendes Flittchen!", kreischte Lisa.

Irgendwie schaffte ich es, von ihr wegzuspringen. Doch anstatt wegzulaufen, wirbelte ich herum. Jetzt stand ich ihr genau gegenüber.

»Was… Was hab’ ich dir getan?!« schrie ich sie an.

»Wage es ja nicht mit Florian auszugehen! Er gehört mir!« zischte sie.

»Lass mich in Ruhe! Und ihn auch! Er hat mich gefragt! Mich, nicht dich! Akzeptier’ das gefälligst!« kreischte ich.

Da rastete Lisa vollkommen aus. Sie packte mich am Hals und drückte mich gegen eine Mauer. »Halt’ dein Maul, sonst bring’ ich dich um!« fauchte sie.

Ich geriet in Panik. Ich bekam keine Luft. Sie wollte mich umbringen! Doch plötzlich ließ sie los. Sie trat ein paar Schritte rückwärts und musterte mich von oben bis unten. Plötzlich, vollkommen unerwartet, drehte sie sich um und rannte weg. Als sie außer Sichtweite war, brach ich weinend zusammen.

Um halb fünf kam ich dreckig, verschwitzt und erschöpft nach Hause. Was sollte ich jetzt tun? Sollte ich Florian anrufen und absagen? Aber dann würde er vielleicht doch Lisa fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte und das war doch genau das, was sie erreichen wollte. Nein! Ich, Aisha, wollte um Florian kämpfen!

Ich stellte mich unter die Dusche. Ich hatte noch zweieinhalb Stunden Zeit, um mich fertig zu machen und meinem Bruder sein Mittagessen zu machen.

Um Punkt halb acht war Florian da. Strahlend öffnete ich die Tür. »Hi!« sagte ich.

»Hi! Du siehst echt gut aus! Können wir gehen?« begrüßte Florian mich.

Ich wurde rot. »Danke für das Kompliment! Natürlich können wir gehen!« rief ich fröhlich.

»Wie lange hast du eigentlich für diese Frisur gebraucht?« fragte Florian grinsend.

»Nicht sehr lang. Zehn Minuten vielleicht«, lachte ich. Ich hatte meine langen, schwarzen Haare kompliziert hochgesteckt. Mit dieser Frisur sah ich um gut zwei Jahre älter aus.

»Du bist nicht nur klug, pünktlich und hübsch, du bist auch noch geschickt! Wow! Da habe ich mir ja die richtige ausgesucht!« meinte Florian und grinste mich schelmisch an.

»Du Schleimer!« rief ich lachend und kniff ihn spielerisch in die Seite.

»Wie findest du eigentlich Lisa?« fragte ich vorsichtig.

»Weiß nicht. Die ist mir um eine Nummer zu hoch!« antwortete Florian. »Ich wollte dich sowieso fragen, ob ich… naja… ob ich…«, stotterte er.

»Was denn?« wollte ich wissen.

»Naja, ob ich mich vielleicht zu dir setzen kann?« sagte er.

Ich musste sofort an Lisa denken. »Er gehört mir!« hatte sie gesagt. Ich konnte es mir nicht leisten, sie zu verärgern. »Ähm… ich weiß nicht. Darüber muss ich noch nachdenken«, log ich, ohne Florian in die Augen zu sehen. Aber dann erinnerte ich mich an meinen Vorsatz, um Florian zu kämpfen. Ich konnte mich doch von Lisa nicht so fertig machen lassen!

»Ach, weißt du was?« sagte ich zu Florian, »Wenn du heute ganz lieb und nett zu mir bist, werde ich dir vielleicht erlauben, dich neben mich zu setzen! Also: Reiß dich zusammen!« Ich grinste Florian an.

»Ach, bei einem so süßen Mädchen wie dir kein Problem!« freute er sich. Und ich wurde wieder rot. Komplimente schien ich nicht sehr gut zu vertragen!

»Na, wie hat dir der Film gefallen?« fragte mich Florian.

»Gut. Und dir?« fragte ich zurück.

»Auch gut. Aber du gefällst mir noch mehr!« meinte er.

Ich musste lachen. Er übertrieb wirklich. »Hör’ doch auf. So toll, wie du immer sagst, bin ich doch gar nicht!« rief ich.

»Doch, bist du!« flüsterte Florian. »Ich mag dich echt, Aisha!«

»Ich mag dich auch!« sagte ich. Florian beugte sich vor und küsste mich zärtlich auf den Mund. Er hatte wahnsinnig weiche Lippen. Anfangs genoss ich den Kuss wirklich, doch dann dachte ich an Lisa. Trotz meines Vorsatzes stieß ich Florian von mir weg.

»Was ist denn los? Hab’ ich was falsch gemacht, oder so?« fragte dieser überrascht.

»Nein, nein! Du kannst nichts dafür! Es ist nur… Ich kann es dir nicht sagen! Tut mir leid!« rief ich verzweifelt.

»Wenn du meinst…« murmelte Florian. Er klang sehr enttäuscht. »Möchtest du vielleicht noch irgendwo etwas trinken gehen?« fragte er mich.

»Nein, danke. Ich möchte lieber nach Hause«, flüsterte ich.

Endlich waren wir bei mir zu Hause angekommen. Es war schon halb elf. »Gott sei Dank ist morgen Sonntag« seufzte ich. Er erwiderte nichts. Eine Weile standen wir schweigend nebeneinander. »Tja, ich muss jetzt rein gehen. Vielleicht rufst du mich morgen ja mal an?« fragte ich verzweifelt.

»Vielleicht«, murmelte er, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten davon. Mit Tränen in den Augen sah ich ihm nach.

Wütend warf ich meine Zimmertür hinter mir zu. Warum war ich nur so blöd? Zuerst nahm ich mir vor, um Florian zu kämpfen und dann… Warum hatte ich meinen Vorsatz nur nicht eingehalten? Warum hatte ich wieder an Lisa gedacht? Warum? Warum war ich so schwach? Warum nur? Ich fing fürchterlich an zu heulen. Ich wollte nicht mehr leben. Da verliebte ich mich einmal und dann… Dann war ich zu schwach um mich gegen eine Dreizehnjährige zu wehren! Dem musste ich ein Ende setzen. Ich konnte doch nicht für immer Angst haben! Gleich am Montag wollte ich mit Lisa reden.

Mitten in der Nacht wachte ich auf Was war das? Ich glaubte Stimmen zu hören. »Ja, das ist cool! Mach weiter!« hörte ich jemanden rufen. Ich sprang aus meinem Bett, zog mir meinen Bademantel an und lief die Treppen zum Erdgeschoß hinunter. Ich war in dieser Nacht allein zu Hause, weil meine Eltern und David bei meinen Großeltern übernachteten. Vorsichtig sah ich zum Fenster hinaus. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah: Draußen, ein paar Meter vom Fenster entfernt, standen Lisa und ein paar Jungs und bewarfen unser Haus mit Tomaten und Eiern. Wutentbrannt riss ich die Wohnungstür auf und stürmte nach draußen. »Hey, verschwindet, was soll das ?!« brüllte ich. Da erschien neben mir Sunny. »Sunny, fass!« schrie ich. Sunny folgte sofort. Er rannte geradewegs auf Lisa zu.

Dann ging alles blitzschnell. Lisa griff in ihre Jackentasche, holte ein Messer heraus und stach auf Sunny ein.

»Sunny!« schrie ich auf.

Lisas Freunde rannten weg, doch Lisa blieb stehen. Hasserfüllt sah sie mich an. Ich lief zu Sunny, der winselnd am Boden lag. Die Tränen stiegen mir in die Augen.

»Was hast du getan?« kreischte ich, »Mörderin!«

»Wer nicht hören will, muss fühlen!« zischte Lisa.

»Was meinst du?« Ich war total verwirrt.

»Du hast dich mit Florian getroffen! Du bist selbst schuld!« fauchte Lisa. Sie grinste mich an.

»Aber…« Mehr brachte ich nicht heraus.

»Und falls du weiter nicht auf mich hören solltest, bist du die Nächste!« rief Lisa noch, bevor sie sich umdrehte und davonlief.

Eine Stunde später saß ich weinend in unserem Wohnzimmer auf der Couch. Ich hatte den Tierarzt angerufen, der Sunny sofort geholt hatte. »Er wird es schaffen!« hatte er gesagt. Trotzdem war ich total fertig. Was sollte ich denn jetzt tun?

In der Früh wachte ich schon um acht Uhr durch das Läuten des Telefons auf. »Ja, hallo?« fragte ich verschlafen.

»Hallo Aisha. Ich bin’s, Florian. Kann ich kurz zu dir rüberkommen? Ich muss dich etwas fragen!« hörte ich Florians Stimme.

»Frag doch gleich jetzt!« meinte ich. Ich wollte ihn nicht sehen.

»Nein, das geht am Telefon nicht! Ich bin in zehn Minuten bei dir«, rief er und legte auf.

Schweigend saßen wir im Wohnzimmer. »Also, was willst du?« fragte ich schließlich.

»Ich will wissen, weshalb du so mit meinen Gefühlen spielst! Ich meine, zuerst küsst du mich und dann sagst du, du möchtest nichts mehr von mir wissen! Was soll das?« erwiderte er wütend.

Ich glaubte, mich übergeben zu müssen. »Es tut mir leid, Florian. Aber ich kann es dir nicht sagen! Ich kann nicht, verstehst du?« rief ich verzweifelt.

»Nein, ich verstehe nicht! Ich meine, wenn ich dir nicht gefalle oder so, kannst du es ruhig sagen! Oder hast du vielleicht einen Freund?« schrie Florian.

»Nein, das ist es nicht! Das ist es wirklich nicht. Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst«, murmelte ich.

Verständnislos sah er mich an. »Na gut, ich gehe! Aber du wirst mich nicht so bald wiedersehen, das kannst du mir glauben!« Er stand auf und wollte hinausstürmen. Aber jetzt wurde ich wütend.

»Was fällt dir eigentlich ein?« schrie ich ihn an, »Du willst wissen, weshalb ich mich nicht mehr mit dir treffen will, ja? Na gut, dann sag’ ich es dir: Wenn ich mich mit dir treffe, bringt sie mich um! Reicht dir das als Grund?!«

Florian sah ziemlich verwirrt aus. »Was?« fragte er.

»Sie hat schon fast meinen Hund umgebracht und bald wird sie mich auch umbringen!« kreischte ich.

»Aber wer?« wollte Florian wissen.

»Lisa!« schluchzte ich.

»Wieso hast du mir das nicht erzählt?« Florian schien entsetzt zu sein.

»Ich hatte solche Angst vor Lisa!« erklärte ich.

»Ach, Aisha, es tut mir so leid!« rief Florian. Er umarmte mich.

»Aber was soll ich jetzt tun?« fragte ich verzweifelt.

»Wir müssen es deinen Eltern erzählen. Und einem Lehrer. Der wird dann mit Lisas Eltern reden«, meinte Florian.

»Lisa ist verrückt!« rief ich aufgebracht, »Was, wenn sie ausreißt und zu mir kommt, und mich umbringt? Ich habe solche Angst!«

»Das wird sie sicher nicht! Ihre Eltern werden sie höchstwahrscheinlich in ein Erziehungsheim geben. Du brauchst keine Angst mehr zu haben! Außerdem…«

Florian beugte sich zu mir vor. Sein Gesicht war vielleicht einen Zentimeter von meinem entfernt. »Außerdem habe ich jetzt ja jemanden, der mich beschützt«, vervollständigte ich den Satz.