Lisa Heidinger (12)

Ewiges Leben

Alius saß in seinem Labor und dachte nach. Er drehte sich in seinem Schaukelstuhl zur Seite und ergriff ein dickes, in Leder gebundenes Buch aus dem Bücherregal. Er blies den Staub von dem golden geränderten Lederbund. Peterstein nieste.

»Oh, Entschuldigung!« sagte Alius und tätschelte seinem kleinen Äffchen den Kopf.

Peterstein verkroch sich gekränkt unter dem Schreibtisch. Alius blätterte im Buch, und mit jedem Blatt wirbelte er neuen Staub auf. Als das Zimmer schon ganz eingenebelt war, fand er endlich, wonach er gesucht hatte: »Das ewige Leben und seine Folgen.«

Er beugte sich immer weiter über das Buch, doch die Buchstaben schienen vor seinen Augen zu tanzen.

»Peterstein! Gib mir doch bitte meine Brille rüber!«

Widerwillig setzte sich das Äffchen auf und sprang geschickt an die Kante des Schreibtisches. Von dort aus hangelte er sich nach links, zog sich am Bücherregal hoch, sprang auf die Lampe, schwang sich damit auf die gegenüberliegende Seite und landete sanft neben der Brille, die im Vogelhäuschen geblieben war. Peterstein war solche Manöver schon gewohnt, denn Alius war auf seine alten Tage sehr vergesslich und wusste nie, wo er was hinterlassen hatte.

Peterstein nahm die Brille an sich, sprang zurück zur Lampe, glitt an ihr herunter und landete auf Alius’ Schoß.

»Danke, mein Lieber!« Der Zauberer setzte die Brille auf und begann wieder zu lesen unter dem Kapitel »Ewiges Leben«.

Er erinnerte sich noch genau an den Tag zurück, als er durch einen falschen Zauberspruch das ewige Leben hergezaubert hatte. Ja, jung war er gewesen. Jung und unerfahren. Und bei der Zauberprüfung hatte er eine Silbe des Spruches für Unsichtbarkeit falsch ausgesprochen, und so war es passiert.

Eine Träne kullerte seine Wange hinunter. Der Affe krabbelte seine Schulter hinauf und wischte dem Zauberer mitleidig die Träne weg. Zärtlich strich er ihm mit seinem kleinen Affenhändchen über die Wange.

»Ich hab dich gern«, sagte Alius zu seinem Haustier und kraulte ihm den Kopf. Er fasste sich wieder, nahm den Affen von seiner Schulter und setzte ihn wieder auf seinen Schoß. Dann las er weiter. Das Kapitel vom ewigen Leben war in drei Absätze eingeteilt. Im ersten stand, wie man das ewige Leben herbeirufen konnte, im zweiten standen die Vor- und Nachteile des ewigen Lebens und im dritten stand, wie man den Zauberspruch rückgängig machen konnte. Er übersprang die ersten zwei Absätze und las den dritten. Da stand nur ein einziger, kurzer Satz: Frag Balthasar-Kasimir-Xador.

Alius las den Satz wieder und wieder, er streute Pulver auf das Buch, das unsichtbare Schrift sichtbar machen konnte, doch da stand nur dieser eine Satz. Balthasar-Kasimir-Xador, kurz Ba-Ka-Xa, war der berühmteste Zauberer dieser Zeit. Er war der weiseste, mächtigste und menschenscheueste. Er lebte auf einem Schloss, abseits von Städten und Dörfern. Man sagte, dass sein Schloss umgeben war von Fallen, Flüchen und wilden Kreaturen. Kein Zauberer auf der Reise zu ihm war je wieder zurückgekehrt. Nur ein Zauberer mit der gleichen Macht konnte dies schaffen.

Alius litt sehr unter seiner Unsterblichkeit. Er war schon über 90 und wurde mit jedem Tag schwächer und hilfloser. Sein größter Wunsch war es, endlich die ewige Ruhe genießen zu dürfen. Alius konnte zwar nicht sterben, aber er fühlte trotzdem den gleichen Schmerz und alterte genauso, wie alle anderen Menschen.

Schließlich nahm er den Affen Peterstein auf die Schulter und bestieg seinen Staubsauger. Alius ging mit der Zeit, und der Besen lag weit hinter ihm. Ein Staubsauger sparte nämlich viel Zeit und Kraft und war für einen schwachen Mann wie Alius genau das Richtige. Er wusste zirka, wo Ba-Ka-Xa’s Schloss lag und machte sich mit Peterstein im Gepäck auf die Reise dorthin.

Er flog über unzählige Felder, Dörfer Hügel und Täler, als er in weiter Ferne die Fahne eines Schlosses im Wind flattern sah. Es war eine rot-gelbe Fahne mit einem Adlerkopf darauf – Ba-Ka-Xa’s Wappen. Der Affe klammerte sich an seines Herrchens Schulter fest.

»Keine Angst, Peterstein. Ich werde dich schon beschützen.«

Er landete sanft auf einem Getreidefeld und stieg vom Staubsauger ab. Es war zu riskant, weiter zu fliegen, denn wenn er in der Luft in einen Fluch flog, könnte er abstürzen und müsste wieder unendlich leiden. Er stützte sich auf seinen Stock und schlug einen Schotterweg ein, der mit Ba-Ka-Xa’s Wappen gekennzeichnet war.

Zuerst war alles ruhig, doch auf einmal lag mitten am Weg eine Grube, die voll mit Schlangen gefüllt war. Alius holte seinen Zauberstab heraus und zielte auf die Schlangengrube. Nachdem er ein paar Zauberworte gesprochen hatte, begannen die Schlangen zu schweben und blieben wie eine riesengroße Wolke über dem Graben in der Luft schweben. Alius hielt den Zauberstab weiterhin auf sie gerichtet, während er die Grube durchquerte. Das beanspruchte viel Kraft und er wurde immer schwächer.

Als er die Grube durchquert hatte, zog er den Zauberstab von den Schlangen weg, und hinter ihm fielen diese mit lautem »Bums« wieder in die Grube zurück.

Ein Stückchen weiter saß dort ein Löwe mit Menschenkopf. Er sah so aus wie eine Sphinx. »Besiege mich, und der Weg ist frei«, sprach sie, als Alius sich ihr näherte. Sie fauchte ihn gereizt an.

Alius setzte sich den Zauberstab an den Kopf und sprach wieder einen Zauberspruch. Daraufhin verwandelte er sich in einen ägyptischen Pharao. »Schweige und tritt zur Seite, wenn du nicht den Zorn des Pharaos spüren willst.«

Ergeben machte das mächtige Tier vor ihm einen Knicks und legte sich dann gehorsam neben dem Weg nieder. Alius passierte diesen Abschnitt des Weges ohne weitere Probleme. Als er dann außer Reichweite des Tieres war, verwandelte er sich wieder in seine wirkliche Gestalt zurück.

Er kam dem Schloss immer näher. Er ging noch ein paar Schritte weiter, als er plötzlich ein seltsames Gefühl spürte. Es war so, als ginge er durch einen Wasserfall, ohne nass zu werden. Er hatte soeben einen Fluch durchbrochen. Peterstein zuckte ängstlich zusammen, als plötzlich Blitze auf sie nieder regneten. Alius hob den Zauberstab auf die Blitze, noch bevor diese den Boden erreichten. Sie blieben mitten in der Luft stehen, und als er dann mit dem Stab in den Himmel deutete, drehten sie sich um und flogen in den Himmel zurück.

Mit jedem Schritt, den er tat, wurde Alius erschöpfter. Nun war er schon beinahe beim Schloss. Nur der riesengroße Wassergraben, der sich um das Schloss zog, und die raufgezogene Zugbrücke hinderten ihn noch daran, in sein Ziel zu kommen. Er pfiff laut, und da kam sein fliegender Staubsauger angeflogen. Zuerst erhob er den Zauberstab auf die Zugbrücke und ließ sie dadurch hinunter, und dann setzte er sich auf seinen Staubsauger und überquerte den Wassergraben.

Zaghaft landete sein seltsames Fortbewegungsmittel auf der Zugbrücke. Alius stieg ab und streichelte dem Staubsauger sanft über das Vorderteil. Dann betrat er das Schloss.

Drinnen war es finster. Stockfinster.

»Sehr gut, sehr gut!« ertönte eine Stimme. »Ich habe dich schon erwartet.« Aus dem Schatten einer alten Ritterrüstung trat ein knorriges Männchen hervor, dessen Bart bis zum Boden reichte. »Deine Zauberkünste sind ausgezeichnet, Alius! Ich kenne deinen Wunsch. Doch bist du dir sicher, dass du das ewige Leben wiederrufen willst, und bist du dir auch dessen bewusst, dass du dann sterben könntest?«

»Ja, großer Ba-Ka-Xa«, antwortete er, während er sich vor dem Zauberer verbeugte. »Ich hätte da nur noch einen letzten Wunsch. Könnt Ihr dann für Peterstein sorgen? Das ist meine einzige Sorge.«

Peterstein sah ihn traurig an. Aus seinen Augen rannen Tränen.

»Natürlich. Das mach ich gerne. Seid Ihr bereit?« Mutig nickte Alius.

Ba-Ka-Xa hob den Zauberstab auf ihn und sprach: »Bolanius – suamo – delikti – terano!«

Auf ein mal brach Alius zusammen. Er starb genau in dem Moment, doch auf seinem Gesicht blieb ein Lächeln.