Lisa Greiderer (11)

Das kleine Taggespenst

Einst lebte auf der Burg Efeustein ein kleines Gespenst. Es war kein gewöhnliches Gespenst, nein, es war ein Taggespenst. Tagein, tagaus wachte es um ein Uhr Mittags auf und schlief um zwei Uhr nachmittags ein. In dieser einen Stunde spielte es oft mit seinen Freunden – der Maus und der Amsel. Manchmal hörte es auch dem alten Uhu zu, wenn er gerade wieder einmal lautstark im Schlaf von der Nacht erzählte.

Eines Tages läutete der Wecker zur falschen Zeit, und so wurde das kleine Gespenst in der Nacht munter.

»Wo bin ich hier? Alles ist so, na, ich weiß nicht… schwarz? Nein, so eine Farbe haben die Federn der Amsel! … Grau…? Nein, so sieht das Fell der Maus aus. Ich glaub‘, nein, mir fehlen die Worte dafür. Fremd. Ja, genau, alles sieht so unheimlich fremd aus. Man sieht keine grünen Bäume. Der Fluss, der durch unser Dörfchen fließt, hat schwarzes Wasser. Die Dächer, die sonst so schön ziegelrot sind, sind auch nur dunkelgrau. Und, oh Gott, wo ist denn bloß die helle Sonne hin verschwunden? Nein, das wird mir wirklich zuviel, ich werden den weisen Uhu fragen, was das hier soll«, sprach das kleine Gespenst.

Schnurstracks eilte es zum hohlen Baum des Uhus. Dieser wollte gerade zu seinem nächtlichen Rundflug starten, aber das kleine Gespenst hielt ihn auf.

»Lieber Uhu, was ist denn passiert?« flehte es.

»Passiert? Wer, wie, wo, wann, warum ist was passiert?« fragte der Uhu erschrocken.

»Was ist denn hier los?« fragte das Gespenst ungeduldig.

»Was soll schon los sein? Alles ist in bester Ordnung«, sagte der Uhu gähnend.

»Na, sag’ mal, bist du blind? Die Sonne ist verschwunden. Das Wasser schwarz. Die Bäume und Dächer farblos, siehst Du das nicht?« fragte das kleine Gespenst ängstlich.

»Aber das ist doch bloß die Nacht!« beruhigte der Uhu.

»Ui, das ist also die Nacht. Aber wozu braucht man die Nacht?« fragte das Gespenst neugierig weiter.

»Viele Tiere sind nachtaktiv, so wie ich auch. Nachtaktiv bedeutet, ich kann nur in der Nacht aktiv sein, weil mein Instinkt so ausgebildet ist. Nur in der Nacht kann ich Beute fangen und sehr gut sehen, und ich mich ehrlich gestehen, ich habe Angst vor dem Tag«, erklärte der Uhu.

»Warum können nicht alle Tiere am Tag leben?« fragte das Gespenst weiter.

»Nehmen wir zum Beispiel Fledermäuse her. Diese sind vor allem in der Nacht wach, weil sie sich ausschließlich von Insekten ernähren, und am meisten Insekten kommen nun einmal in der Nacht zum Vorschein«, erzählte der Uhu.

»Danke, danke dafür, dass ich mich nicht mehr fürchten und in der Dunkelheit fremd fühlen muss«, freute sich das Gespenst. »Und wenn du willst, kann ich dir gerne mal den Tag zeigen.«

Erleichtert flog das kleine Gespenst noch ein bisschen in der Nacht umher, denn es hatte nun keine Angst mehr in der Dunkelheit.