Melanie Gerhold (13)

Die Krise

Beeilung bitte …

Ich raste der Straßenbahn nach und erwischte sie nur mehr knapp. Verzweifelt ließ ich mich auf einen Platz fallen und starrte hinaus in den Regen.

Es war eigentlich immer so, wenn ich ein Meeting mit meinem Freund hatte! Ich kam zu spät! Direkt krampfhaft, wie ich mich an die Überzeugung klammerte, es in 30 Minuten in die Innenstadt zu schaffen.

Dabei hätte ich mich schon längst daran gewöhnen müssen, dass ich bei meinem Glück erst nach 45 Minuten am Hauptplatz stand … Ich schaute fast panisch auf meine Uhr. Zehn Minuten noch. Bei dem Verkehr brauchte die Straßenbahn doch noch mindestens 20 Minuten. Verflixt, und das gerade heute, als er und ich in unserer ersten und wohl auch letzten Beziehungskrise steckten! Bei einem Versöhnungstreffen zu spät kommen, ist nicht gerade die feine englische Art, vor allem, wenn es bei dem Streit auch noch ums Zu spät Kommen ging.

Mein Freund war nämlich der Ansicht, das ich, wenn ich ihm wirklich lieben würde, mich vor Vorfreude auf unser Date schon eine halbe Stunde früher als ausgemacht auf den Treffpunkt begeben sollte. Das war zwar totaler Blödsinn, aber als ich ihm das sagte, war er nur noch eingeschnappter. Weil ich ihn aber wirklich liebte, schwor ich ihm, mich zu bessern. Mein Problem war nur: Ich besserte mich nicht.

Damals fragte ich mich, ob ich ihn überhaupt noch lieben würde. Ja, sagte ich mir, ich liebe ihn, aber um ihm das zu beweisen, müsste ich heute eben überpünktlich sein, und das würde ich niemals schaffen. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf meine kleine Handtasche. Es war genau 17 Uhr. Jetzt müsste ich schon dort stehen. Eine bittere Träne rollte meine Wange hinunter. Er war sicher total enttäuscht von mir, wenn ich jetzt noch einmal zehn Minuten zu spät kam.

Die Straßenbahn hielt. Drei Stationen musste ich noch fahren. Und ich war schon acht Minuten zu spät! Plötzlich klingelte mein Handy. Ich bekam gleich die Krise, so ängstlich war ich. Ein schüchternes Stimmchen meldete sich am anderen Ende. »Du, Ulrike … es tut mir echt total leid, aber … ich bin … ein bisschen zu spät. Sei nicht sauer, okay? Ich bin eh in fünf Minuten da …«

Ich war so erleichtert, das ich die ganze Welt umarmen hätte können. Aber das ließ ich mir nicht anmerken. »Okay, das macht nichts.« Sagte ich nur, und dann sagte ich noch drei entscheidende Worte: »Ich liebe dich!«

 

Jeanni

Jeanni war eigentlich als hübsch zu bezeichnen. Sie hatte schwarze glatte Haare und ein schmales weißes Gesicht. Aber sie war ein durch und durch unsportliches Mädchen und war außerdem so schüchtern, dass sie nie ein Wort in der Klasse sagte. Die meisten hielten sie deswegen für naiv. Manche dachten, sie sei arrogant, und beschimpften sie und machten ihr durch Späße klar, wie wenig sie sie mochten.

Manche kümmerten sich aber gar nicht um sie, und Jeanni fand, dass das die beste Gruppe sei. Sie wollte nicht beachtet werden. Jeanni störte es natürlich, dass sie alle ständig verarschten. Aber sie dachte, dass, wenn sie mehr sagen würde, alles nur noch schlimmer werden würde.

Früher war Jeanni nicht so schön gewesen. Sie war damals etwas dick, hatte aber abgenommen, und noch immer verarschten sie alle. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte, und wendete sich in ihrer Verzweiflung von allen ab.

Nun saß sie da, in der ersten Reihe, und weinte. Sie weinte oft, anders konnte sie ihren Schmerz nicht ausdrücken. Sie sehnte sich nach jemanden, der einmal zu ihr sagen würde: »Ich mag dich!«

 

Besessen

Sie saßen im Auto. Leise Musik drang aus dem Radio, die Luft roch nach Benzin, und Tom fühlte sich wohl. Nina fuhr. Sie war eine schnelle Fahrerin, und baute jeden Tag mindestens einen Unfall. Seit einem Monat war aber alles anders. Nina hatte noch nicht eine Verkehrsregel gebrochen und war viel ernster geworden. Eine richtige kleine Streberin. Tom geriet langsam in Sorge, und wollte mit ihr darüber reden.

Die Nacht war dunkel. Ninas Auto kroch langsam über die Autobahn.

»Nina!« sagte Tom vorsichtig, schwörend, mit ihr jetzt über ihre geheimnisvolle Veränderung zu sprechen.

»Ich muss mit dir reden …«

»Was ist denn…« Beunruhigt schaute Nina Tom an, denn sie hatte schon seit einem Monat nicht mehr mit ihm über ernste Themen geredet.

»Ehm, ich frage mich nur, ach, du bist in letzter Zeit so anders, ich meine …«

»Inwiefern?« Ninas Stimme klang plötzlich eisig.

Tom strich sich nervös über die Haare. Plötzlich spürte er Angst. Kalte Angst, wenn er Nina nur ansah. »Ahm, äh, du bist viel ruhiger geworden û

»Ich kann mir eben nicht genug Geld für die Strafzettel leisten, und überhaupt geht dich das ja wohl nichts an.«

»Natürlich nicht, ich finde es nur komisch …«

»Vergiss es einfach!«

Tom wusste, dass die Strafzettel nicht der Grund für ihre Veränderung waren. Aber er wollte ihr nichts sagen, er wollte einfach nur weg von hier …

Plötzlich kam der Mond hinter den Wolken hervor, so hell und rund. Er strahlte Nina mitten ins Gesicht, und genau in dem Moment sah sie ihn an, kalt und starr. So, fiel ihm vor Schreck ein, als würde sie ihn hassen.

Ein Donner krachte über den plötzlich wolkenlosen Himmel, und für den Bruchteil einer Sekunde kam es Tom so vor, als wäre Nina verschwunden. Doch dann saß sie plötzlich wieder neben ihm. Als wäre nichts passiert. Es war plötzlich so still.

Tom starrte Nina an. Plötzlich war sie wieder seine Nina, seine alte Freundin, die ihn fröhlich anstrahlte. »Was schaust denn so?" hörte er ihre warme Stimme sagen.

Er roch den Duft ihrer Haare, spürte ihre Lippen auf seinen.

»Nina«, flüsterte er, »ich bin so froh, dich wieder zu haben.«

Als sie, diesmal um die Hälfte schneller, weiterfuhr, sah Tom eine weiße Schwalbe zum Mond fliegen, bevor dieser sich wieder verdunkelte. Da wusste er, dass Nina besessen worden war.

Aber sie verbesserte sich, beendete ihr Studium erfolgreich und bekam nie wieder Anzeigen.