Thomas Flecker (12)

Das Buch, das mich nicht loslässt

Ich las wieder einmal ein besonders dickes Buch, diesmal eines, das ich am Dachboden gefunden hatte. Es war verstaubt und braun, und hatte schon einige Risse.

Außerdem wurde es mit vergoldeten Scharnieren zusammengehalten. Es dürfte einmal mit einem Schloss versehen gewesen sein, welches ich aber nicht mehr finden konnte.

Einen Titel hatte es allerdings nicht.

Lange las ich noch nicht, etwa zehn Minuten. Die altmodische Schrift im Buch ließ sich nicht leicht entziffern. Endlich hatte ich die erste Seite geschafft. Das Seltsame war, dass es mitten in der Geschichte losging. Es fing gleich an, wie zwei Soldaten auf Schlosszinnen fochten, und schließlich einer 100 Meter in die Tiefe auf blanken Fels stürzte. Der letzte Satz lautete: Er sah ihm nach und dachte…

Ich holte tief Luft und blätterte um. Doch auf der nächsten Seite ging es weiter mit: Darum ist auch ein Tintenfisch ein wirbelloses Tier.

Das gibt’s doch nicht! Von Abenteuergeschichten zum Sachbuch? Bin gespannt wie es auf der nächsten Seite weitergeht, dachte ich.

Also las ich die Seite fertig und blätterte um. Dort stand: »Ich bin dein Vater Luke!« sagte Darth Vader. »Nein!« schrie Luke.

So was! Jetzt auf einmal Science Fiction, dachte ich kopfschüttelnd, was wohl als nächstes kommt, vielleicht Winnie Poo?

»Essen!« rief plötzlich meine Mutter, und ich ging zu Tisch. Nach dem Essen widmete ich mich wieder meinem Buch.

Als ich begann, von vorne weg die Seiten nacheinander aufzuschlagen, entdeckte ich etwas… na ja… nicht ganz so Gutes: Auf den Seiten standen fettgedruckt die schlimmsten Schimpfwörter.

Da wurde ich zornig und schlug das Buch zu.

Doch am Abend bereute ich es schon wieder und schlug das Buch abermals auf. Doch das hätte ich besser lassen sollen. Auf allen Seiten waren die schlimmsten Horrorszenen abgebildet: Zombies, halb verdaute Menschen, Leute mit Äxten in den Köpfen. Dafür konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Trotzdem kam ich nicht mehr los von diesem Buch und untersuchte immer wieder die Seiten, sobald ich nur Zeit hatte.

Immer brutaler wurde es. Doch eines Tages, als ich es loswerden wollte und es wegwarf, lag es später wieder zuhause im Wohnzimmer. Und wie ich es einmal zu zerreißen versuchte, erschienen so hässliche Fratzen auf den Seiten, dass ich es nicht mal anfassen wollte.

Eines Tages schlug ich es wieder auf, es waren darin die schlimmsten Todesarten aufgezeichnet. Darunter auch Verbrennung. Das brachte mich auf eine Idee.

Am nächsten Tag, als mein Vater gerade wieder den Kachelofen einheizte, saß ich lauernd da. Neben mir das verrückte Buch, wie ich es mittlerweile getauft hatte; in meiner Hand hielt ich eine lange Zange. Das Feuer brannte gerade so richtig, sodass mein Vater die Tür anlehnen wollte, da rief ich: »Achtung, es kommt noch was!« Dann packte ich das Buch mit der Zange und steckte es ins Feuer.

Es ertönte ein schauriger Pfiff, als die Flammen aufloderten und das Buch verschlangen.

Jetzt bin ich es los! Dachte ich erleichtert.

Nur unser Nachbar, der gerade vorbeispazierte, bemerkte den Rauch, der sich zu einem Totenschädel formte. Schließlich schrieb der Rauch das Wort RACHE in den Abendhimmel…