Martin Fischer (13)

Das Leben des Marc Jonson

»Also gut, ich beginne nochmals von vorn. Es war das Jahr 1968. Ich war acht Jahre alt und lebte in New York. Meine Mutter war eine Säuferin, meinen Vater kannte ich nicht. Meine Mutter arbeitete in irgendeiner Firma und ich war den ganzen Tag alleine. Doch als sie dann nach Hause kam, war sie wieder einmal stockbetrunken. Sie ging dann meistens auf meinen kleinen Bruder los, doch ich ärgerte sie absichtlich, damit sie auf mich losging. Wir gingen fast nie in die Schule, da uns unsere Schulkollegen immer ärgerten, weil wir ärmer waren als sie. Wir wuchsen in einer ziemlich miesen Gegend auf, um nicht zu sagen, in einem Ghetto. Freunde hatten wir keine, nur ich meinen kleinen Bruder und er mich. So weit ich mich erinnern kann, es ist ja schon einige Jahre her, habe ich mit meinem Bruder noch nie gestritten.

Na, jedenfalls fing ich dann mit zwölf Jahren zu rauchen an. Da ich kein Geld hatte, um mir Zigaretten zu kaufen, musste ich stehlen. Aber ich hatte früher ja schon oft gestohlen, also war das kein Problem. Natürlich rauchte ich nie vor meinem kleinen Bruder. Er war damals… neun Jahre alt. Dann, zwei Wochen nach dem zehnten Geburtstag meines Bruders kam der schrecklichste Tag meines Lebens.

Es geschah alles in der Nacht. Ich und mein Bruder schliefen noch, als ich plötzlich ein lautes Knarren hörte. Ich war ein Typ, der beim leisesten Geräusch aufwachte. Mein Bruder war in dieser Beziehung genau das Gegenteil, er schlief weiter, da konnte auch eine Bombe neben ihm einschlagen. Ich bin dann jedenfalls aufgestanden und zur Tür gegangen. Plötzlich gab es einen lauten Knall, jemand schlug die Tür ein. Das war bei unserer Tür kein Problem, selbst mein Bruder hätte es geschafft. Es waren ungefähr sechs Männer, die hinter der Tür standen. Sie waren alle schwarz angezogen, trugen Kapuzen und hatten Waffen in der Hand. Sie waren anscheinend aus irgendeinem Grund wegen meiner Mutter gekommen. Bevor sie die Wohnung stürmten, lief ich schnell zu meinem Bruder und versuchte, ihn aufzuwecken. Doch ich musste mich beeilen, denn die schwarzen Männer stürmten schon die Wohnung. Ich sprang aus dem Fenster und kletterte von der Leiter, die sich hinter dem Fenster befand. Mein Bruder wollte noch nachkommen.

Dann… hörte ich genau drei Schüsse. Vermutlich hatte sich mein Bruder gewehrt. Ich wusste es nicht, ich rannte nur davon und kam nie mehr nach Hause. Ein Jahr lang lebte ich auf der Straße, musste mein Essen in Müllcontainern suchen und schlief unter Brücken oder auf Straßen. Das war nicht das schlimmste, denn das schrecklichste war die Einsamkeit. Dieser Schmerz, meinen kleinen Bruder verloren zu haben, kostete mir fast zum zweiten Mal das Leben.

Ich war 14 Jahre alt und stand unter dem Einfluss der Droge Phencyclidin, die Halluzinationen und Desorientierung hervorruft. Ich stand auf einer Brücke und wusste nicht mehr, wie mir geschah. Ich wollte springen und hätte es auch getan, denn ich war total deprimiert. Da kam auf einmal ein Junge, schlank und mit blauen Augen. Ich konnte es fast nicht glauben, doch es war… mein Bruder Bud. Nach all der langen Zeit war er zurück auf die Erde gekommen, um auf mich aufzupassen. Er war sozusagen mein Schutzengel.

Also, wie gesagt, ich stand auf der Brücke und war im Stande, zu springen. Als Bud mich sah, schrie er: »Nein, spring nicht! Tu's nicht!« Ich hörte ihn nicht, doch er rannte zu mir und wollte mich festhalten. Plötzlich rutschte ich ab. Ich bekam von all dem nichts mit. Bud bekam gerade noch meinen Ärmel zu fassen, doch er war zu schwach, mich hochzuziehen. Er stand nur am Geländer der Brücke und hielt mit eisernem Griff meinen Ärmel fest. Bud hätte mich nie losgelassen. Als er so hilflos dastand und mich hielt, schrie er zu den vorbeigehenden Passanten um Hilfe, doch diese wollten sich nicht um ihn kümmern, sie gingen vorbei, als ob nichts wäre –

Nun, und den Rest kennen sie ja.«

»… Nun, Marc, bis zu diesem Vorfall auf der Brücke klingt Ihre Geschichte noch ganz normal, wenn ich das so sagen darf. Danach wird es schon ein wenig komplizierter. Erzählen Sie mir noch etwas von der Zeit nachher.«

Da stand ich auf und schrie: »Das habe ich ihnen doch schon hundertmal erzählt, Herr Köppel!! Lassen sie mich doch endlich frei, es ist die Wahrheit, was ich erzähle!«

»Marc, so beruhigen Sie sich doch. Ich will Ihnen doch nur helfen. Sie müssten nicht in diesem Irrenhaus festsitzen, wenn sie doch endlich Vernunft annehmen würden. Also, wollen sie eines Tages hier raus, oder nicht?« Zwei Polizisten ergriffen mich und setzten mich wieder auf den Sessel.

»Na gut, Herr Köppel, ich tue, was ich kann, aber ich versichere Ihnen, das ist die reinste Wahrheit, was ich ihnen erzähle.«

»Also gut…«, fuhr Herr Köppel fort. »Sie kamen danach zu Pflegeeltern. Diese sprachen oft von Halluzinationen und Angstzuständen. Nahmen sie damals noch Drogen?«

»Nein, ich hörte mit diesen Mordsinstrumenten auf, denn ich wollte leben.«

»Wie kam es plötzlich zu diesem Umschwung ihrer Einstellung?« fragte mich der Psychologe.

»Bud sagte mir damals, ich solle leben, denn eines Tages komme er und hole mich hinauf zu meinem Vater und zu ihm.«

»Nun, erzählen sie mir von den Angstzuständen, Alpträumen und dem Verfolgungswahn.«

»Also gut, wie sie wissen, bin ich in armen Gegenden aufgewachsen, ich kannte das Gefühl nicht, in einer normalen Gegend zu leben, es war also völlig fremd für mich. Ich lebte dort immerhin vier Jahre meines Lebens, also bis zum 20. Lebensjahr, denn da bin ich ja zu Ihnen übersiedelt. Also, ich hatte da immer diesen einen Traum… Es war das Jahr 1984, also das Jahr, an dem ich zur Pflegefamilie gekommen bin. Meine Pflegeeltern behandelten mich sehr gut. Sie gaben mir alles, was ich wollte, schenkten mir alles, was ich mir wünschte. Ich vertraute ihnen vollkommen. Alles war in Ordnung. Doch plötzlich war da dieser andere Traum. Es war der Tag, an dem diese schwarzen Männer unsere Wohnung in New York gestürmt hatten. Ich träumte, dass sie keine Kapuzen hatten, und dass es …. meine Pflegeeltern waren, die meinen Bruder umbrachten. Und dass ich als nächster an der Reihe war. Schweissgebadet wachte ich jedes Mal auf, doch ich versichere Ihnen, meine Pflegeeltern haben oft versucht, mich umzubringen! Ich habe mich dann eben gewehrt.«

Herr Köppel war einen Moment still und flüsterte zu seinem Kollegen: »Klarer Fall von Verfolgungswahn.« Ich hörte das natürlich. Da ich nun wusste, dass es egal war, was ich sagte, geriet ich in Wut und randalierte ein bisschen. Du weisst schon, ich schlug auf die Polizisten ein, dann kam auf einmal ein Arzt mit einer Spritze und danach… nichts. Ich sah nur mehr schwarz, so wie früher, als ich die verdammten Drogen nahm. Vermutlich schlief ich eine lange Zeit, ich weiss es nicht mehr. Als ich aufwachte, lag ich gefesselt auf meinem Bett. Plötzlich hörte ich einen Schrei. Doch dieser dauerte nur ganz kurz. Danach war plötzlich ein ganz grelles Licht um mich herum und danach wart auf einmal ihr vor mir, Bud und du, Vater. Ihr habt meine Fesseln auseinandergerissen und mich mitgenommen. So, wie ihr es mir damals gesagt habt, auf der Brücke.

Das war schon etwas, ich wollte springen, als auf einmal Bud daherkam. Ich wunderte mich schon, doch ich wunderte mich noch mehr als plötzlich du, Vater, aufgetaucht bist und mich hochgezogen hast. Danach wusste ich, wenn die Zeit reif ist, holt ihr mich zu euch. Ich bin ja so froh, hier in einer Welt ohne Raum und Zeit. Hier möchte ich für immer mit euch bleiben.

»Herr Doktor Köppel, Marc führt schon wieder Selbstgespräche. Ich glaube, er hat schon wieder diesen Traum, den er jeden Tag hat. Was soll ich tun?«

»Lassen Sie ihn einfach, er ist ein hoffnungsloser Fall. Er wird nie wieder ein normales Leben führen können. Dieser Umschwung in seinem Leben vom Ghetto zu den Pflegeeltern war wohl einfach zu viel für ihn. Oder war es sein anstrengendes Leben? Wir werden es nie herausfinden. Haben Sie übrigens schon das Protokoll jenes Polizisten, der Marc bei der Brücke gerettet hat?«