Nada Dzubur (12)

Ruth

Langsam betrat Ruth die neue Klasse. Sicher 30 musternde Gesichter schauten sie an. Sie hatte ihre dunkle Jeans und das pinke Shirt mit der Aufschrift »You look like an Alien« an. In ihrer Tasche waren ein paar neue Hefte. Die restlichen würde sie morgen besorgen. Sie schaute starr zum Klassenvorstand. Professor Lehner, ein älterer, kleiner Mann, rief sie zu sich.

»So, meine Damen und Herren! Das ist Fräulein Ruth Bacher. Ich hoffe, ihr nehmt sie gut auf.« Nun wandte er sich an Ruth. »Am besten du setzst dich zu Jennifer. Dort ist noch ein Platz frei!« Er deutete auf ein brünettes Mädchen mit giftgrünen Augen. Sie war Ruth von Anfang an unsympatisch. Als Jennifer merkte, dass Ruth sich zu ihr setzen wollte, setzte sie einen tödlichen Blick auf. Hundert Schwerter durchdrangen Ruth. Auf solche Situationen reagierte sie sensibel. Beinahe hätte sie zu weinen angefangen. »Du musst stark sein«, dachte sie. »Lass dir von der Schlange nicht den ersten Schultag hier vermiesen!«

Ruth setzte sich und schaute sich das Klassenzimmer genauer an. Die Tische waren alt und bekritzelt. Der Parkettboden war nicht gerade ein Traum. An den Sesseln klebten massenweise Kaugummis. Der Kasten war früher sicher weiß gewesen. Jetzt war er gelb. Die Ecken waren schwarz. Die Fenster schimmelten. Es war grauenhaft! Ruths alte Klasse war immer sauber gewesen. Keiner durfte die Tische bekritzeln. Keiner durfte Kaugummis auf die Sessel kleben. Jeder, der das tat, hatte eine Klassenbucheintragung bekommen und musste es entfernen bzw. putzen. Ihre Gedanken wurden von Professor Lehner unterbrochen: »Fräulein Bacher, ich weiß ja nicht, wie das in ihrer Schule war, aber hier wird gelernt und nicht nur aus dem Fenster gestarrt.« Sie bemerkte den schadenfrohen Blick der Schlange nur halb. »Die wird ihr blaues Wunder erleben!« dachte Ruth und versuchte Prof. Lehners Gequatsche aufzuschreiben.

Nach der Geschichtsstunde ging sie in die Pausenhalle. Ein Junge und ein Mädchen aus ihrer Klasse rannten ihr nach. »Ruth!« riefen sie. Erstaunt drehte sich Ruth um. »Was wollen die denn von mir?« fragte sie sich.

»Nimm dich in Acht vor Jennifer«, meinte der Junge.

»Aha«, dachte Ruth, »Ich wusste sofort, dass mit der Schlange was nicht stimmt.«

»Sie ist verrückt! Sie redet mit keinem. Nur wenn sie geprüft wird, dann weiß sie alles. Sie hat noch nie eine Frage falsch beantwortet. Noch nie!!! Wenn jemand von uns reden will, setzt sie ihren Blick auf, der macht dich krank, Als Jessica sie geärgert hat, hat sie ihren Blick aufgesetzt, danach war Jessis Gesicht tomatenrot. Eine Woche lang war Jessi krank, alles ihre Schuld. Benni hat drei Tage lang höllische Bauchschmerzen gehabt, nachdem er sie gefragt hat, wieso sie so komisch ist! Sie ist gefährlich!« meinte das Mädchen.

»Danke für die Information! Ich werde Acht geben!« meinte Ruth.

»Übrigens, das ist Melanie und ich bin Tom!« sagte der Junge noch.

Dann gingen die beiden hinauf in den Gang. Ruth wusste nicht, ob sie sie ernst nehmen sollte. Es läutete. Sie ging zurück in die Klasse. Sie hatte total vergessen, sich ein Jausenbrot zu kaufen, Jennifer setzte sich hin. Ruth wagte es nicht, sie anzuschauen. Später, als Ruth in ihrem neuen Zuhause war, dachte sie an Jennifer. »Ist sie ein gescheiter Psychopath oder ist sie kein Mensch?« fragte Ruth sich. Vielleicht hatten Melanie und Tom sie reingelegt. Alles konnte stimmen.

Tage, Wochen, Monate vergingen und Tom, Melanie und Ruth waren dicke Freunde. Doch Ruth musste immer noch neben Jennifer sitzen. Sie war wirklich verrückt! Ruth hatte Angst vor ihr und versuchte ihr so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Eines Montags hatten sie einen Biologietest. Jennifer war die Beste in der Klasse, aber nie hatte Ruth es gewagt abzuschreiben, Dafür hatte sie zuviel Angst vor Jennifer. Die Tests wurden ausgeteilt und Ruth wusste so einiges. Aber was machte Jennifer denn da? Die Musterschülerin schrieb tatsächlich von Ruth ab! Ruth ließ sie abschreiben, damit sie keinen Ärger bekam. Plötzlich kam der Lehrer vorbei und riss den beiden die Zettel aus den Händen. »Das ist keine Partnerarbeit, Ihr werdet den Test am Nachmittag wiederholen!«

»Mist,« dachte Ruth, »alles ihre Schuld!«

Am Nachmittag saßen die beiden in der ersten Reihe. Ruth beim Fenster, Jennifer neben der Tür. Der Lehrer teilte ihnen zwei andere Tests aus. Die Fragen waren superschwer. Ruth hatte keine Ahnung. Sie blickte kurz unauffällig zu Jennifer. Die schrieb. Wahrscheinlich wusste sie alles. Wieso hatte sie bloß von Ruth abgeschrieben?

»Ich komme gleich!« meinte der Lehrer. Er verließ schnell die Klasse, ließ aber die Tür offen. »Der hat es aber eilig…« dachte Ruth. Auf einmal schlug Jennifer die Tür zu. Verdutzt sah Ruth zu, wie Jennifer auf sie zukam. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Jennifers Augen leuchteten giftgrün. »Was hat sie vor?« fragte sich Ruth.

»Du bist ganz schön blöd. Keine Antwort ist richtig!«

Wieso sagte sie so etwas? Ruth starrte sie an. Was passierte jetzt? Jennifers Haut wurde grün, schuppig, die Haare waren weg. Die Arme und Beine auch. Jennifer war eine Schlange! Sie war riesig! Ruth starb fast vor Angst.

»Die hat’s gewusst, was ich bin!« schrie die Schlange, dafür musst du sterben!« Ruths Schock war weg. Sie, dachte jetzt nur daran, das Monster zu zerstören, Die Schlange umschlang sie so fest es ging. Ruth bekam keine Luft. Da fiel es ihr ein: Der Stift. Sie stach mit ihrem Kugelschreiber auf den Schlangenkörper ein. Das Monster ließ locker. Ruth sprang auf und suchte noch etwas, mit dem sie die Schlange töten könnte. Plötzlich spürte sie wieder die kalten Schuppen. Vor lauter Aufregung ließ sie den Stift fallen. Ruth wehrte sich.

»Hilfe, Hilfe!« schrie sie so laut sie konnte. Keine Chance. Die Schlange blickte ihr tief in die Augen – Schwerter durchborten sie. Sie blickte auf den Boden. »Blicke müssen mit Blicken bekämpft werden!« dachte Ruth. Starr und selbstbewusst schaute sie den Schwertern entgegen. Sie konnten ihr nichts tun. Nein, es machte ihr nichts aus. Was war das? Die Schlange löste sich auf. Erschöpft und zufrieden schlief Ruth ein.

»Nicht schlafen, weiterschreiben«, rief der Biologielehrer Ruth zu. Sie gab den halb ausgefüllten Zettel ab.

»Wo ist denn Jennifer?« fragte Ruth.

»Welche Jennifer?« fragte der Lehrer.

»Ach, nichts!«

Im Gang warteten Tom und Melanie. »Ich verstehe noch immer nicht, wieso du ohne Grund nachsitzen musstest!« rief Melanie. »Keine Ahnung«, meinte Ruth.