Irene Diwiak (9)

Cindy

Es war kurz vor zwölf. Ich spazierte aus der Garderobe. Die Sonne schien heiß vom Himmel, und ich setzte mich auf die Bank, die vor dem Schulgebäude stand. Von ihr aus hatte man die beste Aussicht auf die Straße. Ich hielt Ausschau nach einem roten Mercedes. Heute holte mich nämlich die Oma ab, das war fest versprochen. Und die Oma hatte eben diesen coolen roten Mercedes, auf den ich und Mama etwas eifersüchtig waren. Ich schaute nach links, dann nach rechts. Aja, da kommt sie schon gefahren! Ich raste über die Straße und dann zum Auto.

»Hallo Oma!« rief ich, als ich angekommen war. Ich machte die Autotür auf und wollte einsteigen. Auf meinem Platz saß aber schon ein anderes Mädchen.

»Das ist Cindy Hafen«, erklärte die Oma. »Ihre Eltern sind auf Flitterwochen gefahren und haben mich gefragt…«

»…ob du nicht auf ihre Tochter aufpassen könntest, bis sie wieder zurück sind«, ergänzte ich.

»Genau. Und jetzt geh bitte auf die andere Seite und steig endlich ein«, sagte die Oma und startete den Motor.

Ich ging auf die andere Seite und seufzte. Das kann ja heiter werden! Den ganzen Nachmittag mit einer Fremden in der Stube sitzen.

»Wird’s bald!?« drängte die Oma.

Ich erschrak ein bisschen. Dann stieg ich ein, und der Mercedes ratterte los.

Ich schaute Cindy genau an. Sie hatte lange, schwarze, glatte Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Ganz normale Jeans und einen pinken Pullover hatte sie an und starrte aus dem Fenster.

»Endstation, alles aussteigen!« sagte die Oma und half Cindy aus dem Auto. Ich stieg auch aus, ohne Omas Hilfe.

Die Oma hatte ein großes Haus, in das wir gerade gingen. Wir mussten in die Küche, aber die war sowieso im Parterre, also brauchten wir nur links einbiegen. Bald saßen Cindy und ich am Küchentisch und sprachen kein Wort miteinander. Die Oma stand beim Herd und rührte in dem Topf, wo sie immer die Suppen kochte. Ich musste mich sehr bemühen, auf meinem Sessel sitzen zu bleiben. Oh, wie gern würde ich in den Garten gehen und mit Maunzi, meiner Katze, spielen.

»Na, willst du nicht mit Cindy in den Garten gehen oder ihr dein Zimmer zeigen oder wenigstens ein paar Wörter mit ihr reden?« fragte die Oma, als sie gerade ein neues Tischtuch auf den Tisch zu legen probierte.

»Nein!« fauchte ich sie an. »Ich spreche nicht mit Fremden! Und spielen schon gar nicht!«

»Dann bist du halt dumm«, sagte die Oma, die die Sache mit dem Tischtuch schon längst aufgegeben hatte. »Du bist dumm« sagte die Oma immer, wenn ihr was nicht passte.

So saßen wir immer noch da, als die Suppe ausgelöffelt, der Spinat fertig gegessen und die Limonade leer getrunken waren. Da hielt ich’s nicht mehr aus. Ich sprang auf und rief: »Ich gehe in den Garten!«

»Aber nimm Cindy mit!« mahnte mich die Oma. Das hatte ich befürchtet. Dann soll die doofe Tussi eben mitkommen! Wird schon sehen, was sie davon hat! Mittlerweile hatten wir schon unsere Schuhe angezogen und liefen in den Garten. Ich kletterte auf den Kirschbaum und schaute blöd hinunter. Dann schnitt ich ein paar Grimassen und sagte angeberisch: »Das traust du dich wohl nie!«

Dann saßen wir beide herum – Cindy unten, ich oben – und wussten nicht, was wir tun sollten. Irgendwann stand Cindy auf und rief zu mir rauf: »Ich muss jetzt dringend aufs WC!« und rannte ins Haus.

»Jetzt benützt sie auch noch meine Toilette!« dachte ich verärgert. Naja, eigentlich gehörte sie ja der Oma, aber das war mir jetzt egal – Hauptsache, ich konnte mich über Cindy ärgern.

Nach einigen Minuten kam sie wieder heraus und hatte eine Barbiepuppe in der Hand. Sie setzte sich an den kleinen Tisch und fing an, mit ihr zu spielen.

»Die lasst mich sowieso nicht mitspielen!« dachte ich. Eine halbe Stunde saß ich nur am Baum und schaute Cindy beim Spielen zu. Dann wurde es wohl auch Cindy langweilig, und sie kam zum Baum.

»Willst du denn nicht mitspielen?« fragte sie von unten.

Ich nickte und vergaß dabei, dass ich Cindy eigentlich nicht mag. Dann stieg ich vom Baum, und wir fingen an zu spielen. Es machte eine Menge Spaß, und die Zeit verging viel zu schnell.

Am Abend holte mich meine Mama ab. Als ich schon im Auto saß, fragte sie mich: »Und, was hast du gelernt?«

Ich schluckte. Ich hatte ganz vergessen, dass ich bei der Oma für die Mathe-Arbeit hätte üben sollen. Ich grinste und sagte: »Dass auch Fremde Freunde sein können!«