Karlheinz Breinhälter (12)

Die Krähe

Mario war nervös. Er wurde gesucht. Polizeilich. Doch er wiegte sich in Sicherheit. In einem kleinen Häuschen im Wald hatte er Unterschlupf gefunden, bei einer alten Frau. Sie war taub und fast blind. Und außerdem wusste sie nicht, dass Mario – ein religiös Fanatischer – ein Mörder war. Er hatte es auf eine junge Dame abgesehen. Sie war die einzige Zeugin des Mordes am pakistanischen Außenminister. Er musste sie kriegen. Und er würde sie auch kriegen.

Die Nacht brach an. Mario nahm seinen Rucksack und schlich aus dem Haus. Die Alte schlief schon. Entschlossen stapfte er durch den stockdunklen Wald. Er hatte sich nicht umsonst genau diesen Wald als Versteck gesucht. Etwa eine halbe Stunde entfernt lag eine Ferienwohnung. Nach einiger Zeit konnte er das Haus am Waldrand erkennen. Das einstöckige Gebäude war nicht allzu groß dafür, dass es wegen der zwei Eingangstüren für zwei Familien ausgelegt sein musste. An der Hauswand war ein Gitter für Kletterrosen angebracht, auf dem allerdings keine wuchsen. Das ganze Haus machte eigentlich einen schäbigen Eindruck. Überall blätterte schon die Farbe ab, und im offenbar unbewohnten Teil waren alle Fenster eingeschlagen. Im anderen Teil wohnte – sein Opfer.

Da im ersten Stock Licht brannte, konnte er hinter einem Duschvorhang die Frau erkennen. Im Nebenzimmer befand sich eine andere Person. Mario stellte es sich so vor: Zuerst würde er am Gitter hochklettern, dann durch das angelehnte Fenster ins Badezimmer einsteigen und sie einfach abknallen. Er musste schnell sein. Wegen ihres Mannes. Eigentlich kam es ihm recht simpel vor.

Plötzlich hörte er ein Krächzen hinter sich. Es war nur eine Krähe, die auf einem abgestorbenen Ast im Mondlicht saß. Nun ging er ans Werk, geschmeidig kletterte er am Gitter hoch. Das Fenster stand offen. Er nahm einen Revolver aus seinem Rucksack. Als er ihn sich wieder umhängen wollte, glitt er ihm aus den Händen und stieß beim Aufprall die Blumenvase um, die am Fuß der Treppe zur Haustür stand. Diese zerschellte darauf laut klirrend auf dem Asphalt.

Das Fenster des Nebenzimmers war allerdings auch geöffnet. Und die zusammenzuckende Person dort war der Ehemann seines Opfers. Der Mann nahm eine Schrotflinte von der Wand und marschierte in Richtung Badezimmer. »Diesmal erwische ich ihren Liebhaber auf frischer Tat!« dachte er.

Die Frau hatte das Wasser schon länger abgedreht und das Geräusch auch gehört. Sie schob den Duschvorhang zur Seite um nachzusehen, woher es gekommen war. Doch da stand – Mario. Er hatte die Waffe auf sie gerichtet. Sie wollte schreien, aber da stieß ihr Mann die Tür auf und feuerte einen Schuss auf Mario ab. Dieser stürzte darauf aus dem Fenster. Der Mann fuhr seine Frau an: »Du Flittchen!«

»Aber, ich…«

»Sei still!« Wutentbrannt richtete er den Lauf auf sie… Ein weiterer Schuss durchbrach die Stille der Nacht.

Und die Krähe, die zuvor noch auf dem Ast gesessen hatte, flog davon.