Laura Bragagna (10)

In der Fremde

Unsere Geschichte geht sehr viele Jahre zurück. Es war eine dunkle Vollmondnacht. Eine Kutsche fuhr über den vom Regen nassen Landweg. Der Kutscher hatte sich den Jackenkragen hochgekrempelt und den Hut über die Ohren gezogen, dabei hatte er stark geschnieft. Die Räder holperten über die Hügel und gaben lautes Geklapper von sich.

Die Kutsche näherte sich einem mehrstöckigen Einzelhaus, das sehr zerfallen aussah. Die Wände waren stark vermodert, dem Dach fehlten die meisten Ziegel, der Wetterhahn war fast abgebrochen, das Gras reichte einem bis zu der Hüfte und aus den Spalten der Wände wuchs Unkraut.

Die Kutsche machte vor dem Haus Halt. Der Kutscher öffnete die Wagentür. Eine Frau stieg aus. Sie trug ein geblümtes Kleid, das aus einem dünnen Stoff gefertigt war. Es besaß einige Flicken in fast allen Farben. Um ihren Kopf hatte sie, zum Schutz vor dem Regen, ein blaues Tuch gewickelt. Sie hatte einen seltsamen Blick in ihren Augen, sehr ernst, vielleicht ein bisschen traurig. Dicht gefolgt war sie von einem Mädchen, mit einem Alter von zirka acht Jahren. Das Mädchen hatte buschiges schwarzes Haar und ein violettes Kleid an. Hinter ihr kamen seine drei Geschwister. Sie waren viel älter. Es waren zwei Jungen und ein Mädchen. Dieses Mädchen schien die Älteste zu sein.

Schweigsam folgten die Kinder der Frau bis zum Tor, dort warteten sie auf den Kutscher. Er kam hastig angerannt und öffnete das Tor, das ein unheimliches Knarren von sich gab. Ein roter Samtteppich, der golden umrandet war, zierte den Boden. An den Wänden hingen Bilder, die sicher einst vom Jahrmarkt stammten, und ein riesiger Luster ließ seine Farbenpracht auf dem Boden schimmern. Ein wenig in die Ecke gedrängt stand ein alter, eingewachster Tisch mit krummen Beinen. Auf ihm eine kleine Keramikvase, in der sich ein kleines, schlapp hängendes Blümlein befand. Ein Sessel, der so zarte Beine besaß, dass man sich kaum darauf zu setzen traute, stand neben dem Tisch und hatte den selben Farbton. Neben der Vase standen fünf Tassen und eine Teekanne, aus der Dampf qualmte. In einer anderen Ecke befand sich ein Sofa, das mit goldbraunem Samt überzogen war. Ein paar schwere Möbel standen hie und da im Raum verteilt. Alle zeigten von ihrer dunklen Holzfarbe her, dass sie schon alt waren. Unter den Stücken befand sich auch ein Kasten, der fast bis zur Decke reichte.

Mitten im Raum stand eine Frau in einem dunkelblauen Kleid, das viele Rüschen besaß, mit einer weißen Schürze umgebunden und einer ebenfalls weißen Haube. Neben ihr stand ein älterer Mann in einem schwarzen Sakko. Beide hatten ein liebevolles Grinsen um ihrem Mund, und man konnte ihnen ansehen, dass sie sehr gutmütige Menschen waren. Sie verbeugten sich, wie auf ein Zeichen. Die Frau und die vier Kinder gingen auf die beiden zu.

»Diese Dame ist euer Kindermädchen, sie ist auch für den Haushalt zuständig. Ihr Name ist Frau Kröchel. Dieser Herr heißt Herr Wurze. Er ist sozusagen unser Diener. Er vertritt manchmal den Kutscher und ist auch einfach in einem feinem Haus zu erwarten«, sagte die Frau.

»Schön, euch wieder zu sehen, Frau Mingino. Wir hatten Sie schon sehr vermisst. Das Haus war so leer«, sagte Frau Kröchel, während Herr Wurze nickte.

»Das Haus wird erst mal voll bleiben, wenn ich jetzt und für immer meine Neffen und Nichten, die Kinder meiner verstorbenen Schwester aus Holland, hier haben werde«, sagte Mingino.

Die Kinder hörten sich die Gespräche nicht an. Ihre Blicke sausten nur durch den Raum.

»Ach, Kinder«; sagte Mingino lächelnd. »Wie wäre es, wenn ihr euch vorstellt?«

An ihren Gesichtern konnte man sehen, dass sie es nur ungern taten. Doch die Kleinste hatte sich schon etwas näher an Kröchel und Wurze gestellt, mit der Hand auf sich gezeigt und gesagt: »Rrrrrolla.«

Wurze und Kröchel sahen sich verwirrt an.

»Sie heißt Orola«, sagte Mingino kichernd.

Einer der Jungen, der älter aussah als der andere, schritt hervor und sagte: »Vvvincent.« Nun kam die älteste: »Karrolinne.«

Dann der zweite Junge: »H-anss.«

Mingino klatschte in die Hände. »Euer Zimmer ist im zweiten Stock, die Türe links für die Mädchen und rechts für die Knaben. Dort müssten eure Gewänder sein.«

Orola, Vincent, Karoline und Hans gingen die Treppen hinauf. Man konnte Orola gut ansehen, dass sie sehr neugierig war. Karoline öffnete die Türe. Auf dem Boden lag ebenfalls ein Samtteppich, jedoch in olivgrün, mit ein paar Bestickungen. Auf dem knarrenden Holzboden standen zwei kleine Metallbetten, auf denen weite Daunendecken ausgebreitet waren. Auf jedem Polster lag ein kleines Päckchen. Orola stürmte auf das violette Päckchen zu.

»Rrrrrolla! Vie-eicht gehörrt es gar n-nicht dirr«, sagte Karoline kopfschüttelnd.

Doch Orola wollte sie nicht hören und öffnete es. Darin lag ein weißer Plüschbär. Sie umarmte ihn und setzte ihn wieder auf den Polster. Karoline sah derweil auf das Nachthemd an ihrem Bettrand. »Kommische Schullunniforrmen, die ssie hirr h-aben.«

Orola reckte ihren Kopf zu dem Päckchen von Karoline. »Wa-um ast du deinns n-icht ge-öffnet? arf ich ess m-machen?«

Karoline schüttelte den Kopf und öffnete das rote Päckchen. In ihm lag ein kleines Zebra. Ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. »Wirr sollten schlaffen genn« sagte sie und zog sich ihre Klompen aus. Orola nickte, zog sich ihre ebenfalls aus, schlüpfte unter die Decke und machte die Augen zu. Karoline nahm ihr Zebra fest in die Hand, zog die Decke über sich und murmelte: »Gutte Nacht.«

»Guten Morgen, Kinder!« Mingino war in das Zimmer gekommen und hatte die Vorhänge geöffnet. Grelles Licht schoss durch das Fenster. Karoline sah geblendet zu Mingino.

»Du liebe Güte! Warum habt ihr eure Nachthemden nicht an?« sagte Mingino und hielt sich die Hand vor den Mund.

»Hä?« sagte Karoline verschlafen »u-sere Schullunniforrmen?«

Mingino lachte. »Nein, das sind eure Nachthemden.«

Karoline wurde rot.

»Macht nichts« sagte Mingino achselzuckend. Sie öffnete einen mit Blumen bemalten Kasten und holte zwei Kleider heraus. Sie nahm die Nachthemden vom Bett und legte die Kleider statt dessen darauf. Karoline öffnete ihre Augen so weit, dass man glaubte, sie könnten jeden Moment herauspurzeln.

»Ts. Noch nie ein Kleid gesehen?« sagte Mingino lächelnd.

»Doch. A-er n-nicht sso wäche.« Es bestand aus dickem, rotem Samt, und war an Ärmel und Kragen mit weißen Rüschen verziert.

»Zieht sie euch an und kommt dann frisiert nach unten.«

Karoline sah auf die schlafende Orola. »Rrrrrolla! Aufstenn!«

Orola blinzelte. »Binn ja schonn wak, binn ja schonn wak.«

Karoline nickte zufrieden mit dem Kopf. »Gutt.« Als sie sich angezogen hatten, holte Karoline ihre Bürste aus dem Koffer, bürstete sich solange, bis ihr Haar richtig glänzte und flocht sich zwei Affenschaukeln. Orola machte es ihr erstaunlich gut nach. Sie gingen die Treppen hinunter.

Mingino hatte ihr Haar zu einem Knoten gebunden und es mit einem Netz umspannt. Sie trug ein dottergelbes Kleid, das ebenfalls mit einigen Rüschen verziert war. Hans und Vincent hatten dunkelblaue Jacken und schwarze Hosen an. Beide hatten einen Seitenscheitel und viel Pomade ins Haar geschmiert.

»Abt irr Schneckenschleim im H-arr?« fragte Karoline.

Orola lachte.

»Ähem. Wieso habt ihr keinen Knoten?« fragte Mingino und zeigte auf ihr Haar.

»Äh? aben wirr n-noch ni geabt« sagte Karoline verlegen.

»Ach? Frau Kröchel! Machen sie den zwei Kindern eine ordentliche Frisur. Es sollte schnell gehen, sie sollten doch nicht mit leerem Magen in die Schule!«

Kröchel kam gerannt und ging mit ihnen auf das Zimmer. Sie öffnete die Affenschaukeln und bürstete hastig und grob die Haare. Karoline musste sich das Schreien verkneifen. Schnell drehte Kröchel die Haare zu einem Knoten und band ihn mit einem seidigen Haarband fest. Der Knoten war so fest gemacht, dass er schmerzte. Orola murmelte ständig: »Ich abe sso Kopfwe, ich abe sso Kopfwe.«

»Ja, schön seht ihr aus!« sagte Mingino und klatschte in die Hände. »Setzt euch und esst etwas. Seit der langen Fahrt gestern müsst ihr sicher hungrig sein. Wir haben euch ja so viel zu bieten. Zum Trinken: Holunderblütensaft, Kakao und Früchtetee, zum Essen: Gekochte Eier, Rühreier, Schwarz- und Weißbrot, dazu Aufstriche aus Ei, Fischeiern, Schmalz und Erdnussbutter. Marmeladen aus Heidelbeeren, Brombeeren, Himbeeren und Erdbeeren, aus Marillen, Quitten und Ribiseln. Wir haben natürlich auch Speck, Schinken, Wurst, Kaviar, Butter und Käse.«

»Edamer und Gouda?« fragte Orola und leckte sich die Lippen.

»Matjeshering mit Zwiebeln?« fragte Karoline strahlend.

»N-nein. Dinge aus Holland haben wir nicht«, sagte Mingino und sah verlegen zu Boden.

»Aach«, sagten Orola und Karoline traurig.

Hans und Vincent hatten sich mit dem Essen, das es hier gab, zufrieden gegeben und still das Frühstück verbracht. Orola hatte nur zwei Butterbrote gegessen und Karoline ein hartgekochtes Ei mit Weißbrot.

»Habt ihr wirklich keinen Hunger mehr?« fragte Mingino. Orola und Karoline schüttelten den Kopf. »Zur Jause gibt euch Frau Kröchel ein Brot mit Eiaufstrich, einen Apfel und eine Flasche Saft mit.

Hans, Vincent, Karoline und Orola nickten.

»Ich habe mich über die Schule erkundigt. Die Schulsachen sind schon gekauft, die Schulbücher bekommt ihr in der Pause. Leider muss ich euch mitteilen, dass ihr nicht nur die Lernstunden, sondern auch zwei Schularbeiten wiederholen müsst. Orola, du kommst in die Volksschule Embelkorn, genauso wie Hans. Jedoch, wie es nun mal üblich ist, kommt Hans in eine Knabenklasse und du in eine Mädchenklasse.« sagte Kröchel.

»Äh? N-nabenkasse?« fragte Hans.

»Mächenkasse?« fragte Orola.

»Sagt bloß, ihr wurdet nie getrennt?« fragte Kröchel erstaunt. Alle vier schüttelten den Kopf.

»Ts. Naja, Hans kommt in die 2a und Orola in die 1c. Für euch«, sagte Kröchel und sah auf Karoline und Vincent, »gibt es leider keinen Platz mehr in der Schule am Embelkornplatz. Ihr kommt in die Mastrigasse. Vincent, du kommst in die 3d und Karoline, du in die 4e.«

»N-nein! Ich will mitt Karrollinne in die Schulle!« rief Orola verzweifelt.

Die anderen schienen auch nicht sehr zufrieden zu sein. Doch es hatte alles keinen Zweck. Mingino schubste die Kinder bei der Tür hinaus, wo zwei Kutschen standen. Die eine wurde von dem Kutscher geführt, die andere von Wurze.

Orola sah Hans nickend an und ging zu Wurze. »Hallo Kinder! Ihr wollt mit mir fahren?« fragte er mit lieblicher Stimme. Orola nickte, und begann leicht zu lächeln. Sie stiegen ein.

Drinnen, auf den mit Samt bezogenen Sitzen, war es warm und gemütlich. Purpurne Vorhäge waren über die kleinen Fenster gespannt. Es war ein wenig düster drinnen. Orola zog die Vorhänge weg. Regentropfen hämmerten an die Fensterscheiben. Der Regen hatte sich zwar gemildert, doch aufgehört hatte er noch immer nicht. Die Kutsche, in der Karoline saß, war losgefahren. Orola war traurig. Ihre Augen glichen nur zu sehr den nassen Fensterscheiben, die die Ausicht nicht scharf wiedergaben. Ein Ruck der Kutsche ließ Orola wieder an etwas anderes denken: An die Schule. Wie könnte es dort zugehen? Wären sie wirklich dort so anders? Sie, alleine bei lauter Kindern, die sie nicht kannte? Nein, sie hatte einfach kein gutes Gefühl dabei.

Sie näherten sich einem großen Gebäude. Wurze öffnete die Türe. Auf dem Schulhof standen und saßen lauter Mädchen und Jungen, die alle genau gleich aussahen wie Orola und Hans. Beide staunten nicht schlecht. Alle Kinder, an denen sie vorbei gingen, begannen zu tuscheln und zeigten auf Orola und Hans. »Geht durch dieses Tor in die Klasse…« Wurze sah sie an.

»Einz Seh«, sagte Orola.

»Swei ah«, sagte Hans.

Beide gingen durch das Tor. Wurze winkte noch kurz und ging dann zu seiner Kutsche.

»Schüss«, sagte Orola zu Hans und ging auf die Türe zu, auf der 1c stand. Ihr Herz pumperte wie wild. Plötzlich begann die Schulglocke zu läuten. Orola zuckte zusammen. Viele Kinder rannten auf die Türe zu, auf der 1c stand. Die Kinder drängelten alle durch die Türe. Ein Mädchen mit fast weißem Haar und smaragdgrünen Augen stieß Orola zu Boden. Aber sie entschuldigte sich nicht, sie ging weiter und kicherte albern. Orolas Kleid war nun ganz schmutzig.

Als alle Kinder in der Klasse waren, hörte Orola Schuhe am Boden klappern. Hinter ihr stand eine Frau mit blondem Haar und einem himmelblauen Kleid. »Bist du die Neue?« fragte sie und sah sie mit ernstem Blick an. »Wieso bist du nicht in der Klasse, wie alle anderen auch? Husch, geh hinein!«

Orola gehorchte. Die Tische waren alle besetzt. Bis auf einen, an dem das Mädchen saß, das sie umgeworfen hatte. Orola ging auf den Tisch zu.

»Ts, ts. Wie wär’s, wenn du dich vorstellst?« sagte die Frau.

Orola sah sie an.

»Also, wie heißt du?«

Orola hätte zu gerne nein gesagt, aber sie wusste, hier wollten alle immer die Namen wissen. »Rrrrrolla.« sagte sie.

Die ganze Klasse begann zu lachen.

»Was?« fragte die Frau.

»Rrrrrolla.« sagte Orola noch einmal. Wieder begann die Klasse zu lachen.

»Mir scheint, es ist hoffnungslos, mit dir zu reden. Setz dich«, sagte die Frau. »So, wie auch immer du heißt, ich bin Frau Prof. Sweck.«

Orola brach in Tränen aus. Jetzt lachten alle noch viel mehr. Orola ging zu ihrem Platz und heulte weiter. Das Mädchen neben ihr nützte die Gelegenheit und äffte Orola nach.

»So, ihr alle seid relativ neu hier, also spielen wir ein Spiel.« sagte Prof. Sweck. »Jeder muss den Namen von seinem Nachbarn sagen.«

Orola hatte das Gefühl, das hatte Sweck absichtlich gemacht. Orola kannte niemanden aus der Klasse.

»Du bist dran, sag meinen Namen.« Das Mädchen begann zu kichern. Orola sagte nichts.

»Frau Prof., es ist hoffnungslos, sie redet nichts.«

Sweck zuckte mit den Schultern.

»So jetzt ich. Rrrrrolla.« Die ganze Klasse lachte und sogar Sweck kicherte.

Die Stunden in der Schule vergingen endlos langsam. In den Pausen saß Orola nur schweigend da. Essen konnte sie nichts. In jeder Stunde quälten die Kinder Orola. Sie ging nach der Schule heulend zur Kutsche, die auf sie wartete. Hans war schon da. In der Schule hatte er von einem Jungen ein blaues Auge bekommen, erzählte er.

Mingino war schon zu Hause, als die Kutschen ankamen. Orola rannte an dem Tisch mit dem Abendessen vorbei und schmiss sich noch immer weinend auf ihr Bett. Sie nahm ihren Teddy und drückte ihn fest an sich. Als Orola schon fast schlief, öffnete sich die Türe. Es war Karoline. Orola raffte sich auf, rannte zu ihr und umarmte sie so lange, bis sie fast keine Luft mehr bekam.

Am nächsten Tag weigerte sich Orola, in die Schule zu gehen, und die anderen schienen der selben Meinung zu sein. Orola aß nichts, trank nichts, sie weigerte sich bei jeder Bewegung.

»Dann gehst du eben ohne Frühstück in die Schule«, sagte Mingino und zerrte Orola aus der Tür. Orola begann zu kreischen und zu heulen, aber es half nichts. Karoline winkte noch einmal und stieg dann in die andere Kutsche ein. Vor der Schule machten sie Halt.

Es war dasselbe wie am vorigem Tag. Die Kinder flüsterten und zeigten wieder auf sie. Orola wischte sich die Tränen von den Augen und ging zur Türe, auf der 1c stand. Die Kinder waren alle schon da.

»Hallo Rrrrrolla. Setz dich doch.« Das Mädchen neben ihr kicherte gut gelaunt. »W-was hassst du g-gemagt?«

Die Klasse lachte lauter als am Tag zuvor. Orola setzte sich. Die Klasse pfiff, jubelte, klatschte und lachte.

»Steh doch mal auf, Rrrrrolla«,sagte das Mädchen.

Orola wollte aufstehen, doch sie klebte fest. »Auf den Leim gegangen, Rrrrrolla!« rief das Mädchen und lachte so laut, dass einem die Ohren dröhnten.

»M-mein Name ist Orola!« begann Orola heulend zu schreien und riss sich von dem Sessel, wobei ihr Kleid kaputt ging. Sie rannte aus der Tür, stieß gegen Sweck und fiel zweimal hin.

Die Kutsche war schon losgefahren und hatte sich fünf Meter entfernt. Orola rannte ihr nach, bis sie vor dem Haus Halt machten. Wurze stieg aus. Orola konnte nicht hinein. Wenn sie entdeckt werden würde, dann müsste sie wieder in die Schule. Sie setzte sich unter einen Busch und machte die Augen zu. Sie träumte von Holland, von ihren Freundinnen und Freunden, von ihrer Mutter, von den schönen Tulpenfeldern und von dem tollen Essen.

Als sie aufwachte, war es stockfinster. Orola war es egal, sie legte sich auf den Rücken und sah zu den Sternen hinauf. Und da dachte sie an den Tag in der Schule. Sie hatte gesprochen wie alle anderen, war wie alle anderen. Der helle Mond war schön und rund und leuchtete wie ein Feuerball. Mit der Zeit wurde ihr kalt. Doch sie beschloss, unter dem Busch zu bleiben, bis sie sterben würde. Sie zupfte ein paar Blätter ab und legte sie unter ihren Kopf. Und die riesigen Blätter des Huflattich waren ihre Decke. Sie zog den Teddy aus ihrer Schultasche und hielt ihn fester, als sie es je getan hatte.

Als sie aufwachte, schien die Sonne bereits hoch oben, über ihr. Aus dem Haus duftete das Frühstück. Orola stopfte sich ein paar Blätter in den Mund und würgte sie hinunter. Sie schleckte ein paar Tautropfen vom Klee und machte wieder ihre Augen zu. Für sie hatte ein Winterschlaf begonnen.

Drei Tage waren vergangen, seit sie unter den Busch gekrochen war. Doch da kam Wurze und wollte ihn stutzen. Orola erschrak so, dass sie aufschrie. Wurze erschrak ebenfalls. Er fiel rückwärts in das nasse Gras. Orola rannte mit dem Teddy in der Hand in das Haus.

Mingino schrie auf, als sie die schmutzige Orola mit dem zerrissenen Kleid sah. Orolas Haar war offen und auch nicht sehr sauber. Mingino umarmte Orola, als wäre sie gerade von ihrem Tod auferstanden. Karoline warf ihre Tasse vom Tisch und rannte auf Orola zu.

»Wo warst du?« fragte Mingino weinend.

»U-unter dem Busch«, sagte Orola und sah auf ihren, jetzt schwarzen, Teddy.

»Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht«, sagte Karoline.

Orola strahlte. »D-du kannst auch sprechen?« fragte sie erstaunt.

»Ich konnte schon die ganze Zeit sprechen, das weißt du doch, aber ich hab mich noch ein bisschen verbessert. Wie die anderen.« Karoline zeigte auf Vincent und Hans. Beide nickten verlegen. Karoline hob Orola hoch und umarmte sie fest.

»Versprich uns, dass du das nie wieder tust«, sagte Mingino.

Orola schnaufte. »Na gut.«

»Heute ist Sonntag. Also keine Schule. Zum Glück. Dein Gewand ist ziemlich … wie soll ich sagen? Geh nach oben und zieh dir etwas anderes an«, sagte Mingino und lächelte.

Orola hatte das Gefühl, die Sonne hätte sie geküsst. Alles war so wunderbar. Am besten gefiel ihr das violette Kleid ohne Rüschen, das sie sich anzog, nachdem sie gebadet hatte. Ihr Haar hatte wieder den Glanz bekommen. Das musste sie ausnutzen, um sich Affenschaukeln zu machen. Doch an dem Tag war Mingino auch das egal. Sie sah nur fröhlich zu, wie Orola das erste Mal richtig zulangte. Schließlich hatte sie drei Tage nur Blätter gegessen und Tautropfen geleckt.

Doch alles Schöne geht einmal vorbei. Es war Montag. Sie musste wieder ihr rotes Rüschenkleid tragen und sich wieder einen Knoten machen. Doch Orola fühlte sich von ihrem Mut gepackt und weigerte sich nicht ein bisschen, in die Schule zu gehen. Mit vollgeschlagenem Bauch stieg sie in die Kutsche, aus der sie bald wieder ausstieg.

Ihr war egal, dass die Kinder noch immer flüsterten. Sie ging auf die Klasse zu, sah auf ihren Sessel. Er war nass. Honig. Das Mädchen saß bei seinen Freundinnen und tat so, als wüsste es nichts von diesem Honig. Orola vertauschte einfach die Sessel und setzte sich. Das Mädchen lachte, so wie die anderen.

»Hast du was?« fragte Orola und zuckte mit den Schultern. Das Mädchen kicherte und setzte sich.

»Uää!« Sie sah auf den Sessel.

»Du musst ziemlich dumm sein, wenn du glaubst, ich fall zweimal drauf rein.« sagte Orola.

»Aber, aber.....mein Kleid. Meine Mutter bringt mich um.«

»Tja, so ging’s mir. Auf den Honig gegangen!«

Doch da stürzte sich das Mädchen auf sie und biss, kratzte und zwickte sie. Orola wollte den Streit kurz machen und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Doch sie hatte etwas übersehen. Sweck war schon in der Klasse.

»Mutter«, sagte das Mädchen zu Sweck. »sie hat mir Honig auf den Sessel geleert, dann hat sie mir mit der Faust ins Gesicht geschlagen.«

Sweck schüttelte den Kopf. »Felizitas, du arme! Rrrrrolla, was ist das für eine unfeine Art, mit der Faust zu schlagen. Das tun doch nur Knaben.«

Felizitas grinste und wischte sich das Blut von der Nase.

»Ich heiße OROLAA!« brüllte Orola und rannte zur Tür.

»Nichts da!« sagte Sweck »Strafarbeit! Du musst 30 Sonnen malen. Das, was wir inzwischen machen, musst du natürlich nachschreiben. Das heißt … wenn du wen findest, der dir das Heft leiht.« Alle lachten. »Ach ja. In der Pause bleibst du natürlich hier, sonst rennst du noch weg.«

Orola redete kein Wort. Ständig meckerte Sweck an ihren Sonnen herum, und als Orola fertig war, sagte Sweck: »Die Sonnen sind viel zu klein, alle neu machen!«

Orola wurde es zuviel. »Sie glauben doch nicht echt, dass ich das mache?!?« rief sie und rannte aus der Klasse.

Als sie am Schulhof stand, hielt sie ein Mädchen mit rotem Haar auf. »He du! Ich glaub, du heißt Orola, oder?«

Orola nickte.

»Du bist voll mutig, weißt du? Aber ich rate dir, halte dich von Sweck fern.«

Orola sah sie an.

»Wieso seid ihr alle so gemein zu mir? Hab doch nichts gemacht, bin nicht anders als ihr!«

Das Mädchen sah zu Boden. »Tut mir leid. Was Feli tut, tun wir eben alle. Sie verprügelt uns, wenn wir nicht tun, was sie will. Noch dazu ist Sweck ihre Mutter, es ist furchtbar.«

Orola schüttelte den Kopf. »Sie ist stark, weil du ihr hilfst. Nur weil alle klatschen und lachen, ist sie stark. Stell dir vor, niemand würde lachen oder es toll finden.«

Das Mädchen sah sie an, als hätte sie die Welt gerade gerettet. »Du meinst … aber manche mögen Feli sehr.«

»Denk lieber, wer sie nicht mag.« sagte Orola. »Ach, wie heißt du eigentlich?«

Das Mädchen lächelte. »Mirjam.« sagte sie.

»Ich gehe jetzt.« sagte Orola, als die Schulglocke läutete.

»Hey, aber wenn man ständig flieht, rettet man nur sich und ändert Dinge nur kurz«, sagte Mirjam, als Orola losgehehen wollte.

Orola drehte sich um. »Also, legen wir los.«

Orola und Mirjam hatten eingesehen, dass mit Streichen wenig zu erreichen war. Trotzdem sollte man sich nichts gefallen lassen. Als Mirjam den anderen aus der Klasse von Rrrrrolla erzählte, die in echt Orola hieß und sehr nett war, begannen sie zu sehen, dass Orola ein Mensch war, wie sie alle, und mit der Zeit wollte fast niemand mehr über Felizitas’ Witze lachen. Die sah dann immer dumm drein. Orola hatte die Schule langsam gerne, sie ließ einfach »Feli« und Sweck in Ruhe und spielte mit den anderen. Besonders mit Mirjam, ihrer besten Freundin, der sie eigentlich verdankte, dass es ihr doch so gut ging.

Die Tage vergingen und als die Weihnachtsferien begannen, konnte Orola endlich durchatmen. Mingino war stolz auf die Noten der Kinder und dass sie endlich sahen, dass es auch bei ihr wunderbar war. Sie hatten sich mit der Zeit gut an die Gegend und Schule gewöhnt und obwohl sie nicht alles hatten, ging es ihnen einfach super dort. Na ja, an das Benehmen und das Gewand konnten sie sich nie richtig gewöhnen.