Viktoria Bauer (10)

Die schwere Entscheidung

Ich trotte im Wald umher, mein Fell ist zerzaust und ich bin hungrig und durstig.

Ich wandere schon seit ungefähr einer Woche in diesem fremden Gebiet umher, denn Tali Kan hat mich aus seinem Rudel ausgeschlossen. Ach, warum habe ich mich nicht an unsere Rangordnung gehalten? Dann habe ich auch noch gegen Tali Kann gekämpft. Warum habe ich das bloß gemacht? Ich säße jetzt zusammen mit Futur und Almana, Luk und Lok und natürlich mit Tali Kan und Ayana auf dem Hügel und würde mit ihnen unser Abendlied singen.

Jetzt nimmt mich keiner auf. Nein, keiner würde einen armen, streunenden Wolf wie mich in seinem Rudel aufnehmen.

Also wandere ich weiter. Vielleicht hinauf ins Felsenland? Es ist ohnehin schon alles egal, überall bin ich fremd. Ich kann nicht einmal jagen, denn überall ist fremdes Jagdgebiet. Ich muss schon froh sein, wenn ich die Jagdgebiete durchqueren darf. Meistens werden Eindringlinge sofort angegriffen – und ich muss sehr demütig den Leitwolf bitten, mich durchziehen zu lassen. Vielleicht gehe ich auch ins Jenseits, dort ist es sicher wunderschön. Jetzt bin ich am Fuße eines Berges und vor mir liegt ein See. Welchen Weg soll ich gehen? Den in die Fremde oder den ins Jenseits? Oder soll ich einfach weitergehen und auf mein Schicksal warten?

Felsenland, Jenseits oder einfach weiterziehen: drei Möglichkeiten sind zwei zuviel, leider. Ich muss aber eine Entscheidung treffen! Wenn ich also auf den Berg gehe, erwartet mich die Fremde. Kein einziger Wolf lebt dort oben, nur Bären, Gemsen und Steinadler, aber die nützen mir nicht viel. Niemals würden sie einen einsamen Wolf bei sich aufnehmen. Außerdem weiß ich nicht, ob es da genug zu essen und zu trinken gibt. Dafür hätte ich ein riesiges Gebiet für mich, das mir keiner streitig macht.

Wieder führen mich meine Gedanken ins Jenseits, aber eine tiefe Ungewissheit erfüllt mich. Dort habe ich vielleicht ein gutes Leben, aber es kam auch sein, dass mich ein schlechtes Leben erwartet. Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung, denn von dort kann man nicht zurück, und niemand kann erzählen, wie es wirklich ist. Mich fröstelt. Die Wahl wird zur Qual.

Ich könnte auch mit den Wandervögeln mitziehen, meinem Schicksal entgegen. Auch bei diesem Weg weiß ich nicht, ob ich genug zu fressen und zu trinken haben werde. Hhmm? Ich kann mich nicht entscheiden. Bei jedem Weg gibt es Vor- und Nachteile. Auf jeden Fall muss ich es schnell tun, denn sonst erfriere oder verhungere ich.

Ich schaue mich um und bemerke erst jetzt, dass ich auf einer wunderschönen, mit bunten Blumen übersäten Lichtung stehe. Büsche und Bäume säumen sie ein. Die Sonne wirft ihre Strahlen durch die Zweige und von überall her höre ich Vogelgezwitscher. Durch meine Nase wittere ich Hirsche, Rehe und andere Waldtiere. Es ist eine kleine Höhle da und ein Wasserfall, der in einen Tümpel plätschert. Haben mich die Angst und die Einsamkeit blind und taub gemacht?

Jetzt habe ich meine Entscheidung getroffen. Ich bleibe hier auf dieser Lichtung. Ich setze um die Lichtung meine Duftmarken und denke mir: Jetzt in ich hier nicht mehr fremd.