Theodora Bauer (10)

Das Märchen vom Raben und der Maus

Es war einmal ein kleiner Rabe, der war zwar noch ein Rabenkind, aber schon geraume Zeit aus dem Ei geschlüpft. Seine Eltern waren gerade fortgeflogen, um für ihn und seine Geschwister Futter zu holen, als der kleine Rabe versuchte, aus dem Nest zu klettern, weil er schon so gerne die weite Welt sehen wollte. Dabei konnte er noch gar nicht fliegen, und deswegen brachen seine Geschwister in besorgtes Gekrächze aus, als er sich dem Nestrand näherte. Plötzlich geschah es: Er verlor das Gleichgewicht und fiel, da seine Eltern ihren Horst auf einem hohen Felsen gebaut hatten, die Felswand hinunter und wäre wohl am Boden zerschellt, hätte ihn nicht ein kleiner, aber weicher Busch aufgefangen.

Dort lag der Rabe nun sehr erschrocken und wusste nicht, was er tun sollte, als zwei Gestalten auftauchten, eine kleine und eine große. »Wahrscheinlich sind das Menschen! Meine Eltern haben doch gesagt, diese Kreaturen wollen uns Raben nur Böses! Schnell weg!« waren seine Gedanken. Er schlug mit seinen Flügelchen um sich, dass es nur so rauschte, und aus Verzweiflung schrie er, so laut er konnte. Daraufhin entdeckten ihn die »Kreaturen« nur umso schneller. Die kleine Kreatur war ein Mädchen und die große Kreatur war dessen Vater.

Aber siehe da, die Menschen taten dem kleinen Kolkraben nichts Böses, sie hoben ihn behutsam auf und brachten ihn zu sich nach Hause, gaben ihm Futter und pflegten ihn, bis er heranwuchs und sogar fliegen lernte. Dann ließen sie den Raben wieder genau dort aus, wo sie ihn gefunden hatten. Er breitete seine Flügel aus und flog fort. Die Menschen, von denen der junge Kolkrabe mittlerweile sehr viel hielt, sahen den Raben nie wieder.

Der Rabe hatte Sehnsucht nach Seinesgleichen und versuchte, sich einer Jungrabenschar anzuschließen, um ein Kolkrabenweibchen zu finden. Doch alle sagten mit verächtlichem Unterton in der Stimme: »Nein, dich nehmen wir nicht auf. Du bist irgendwie anders als wir, wo du doch bei den Menschen, diesen abscheulichen Wesen, aufgewachsen bist !« Daraufhin war der junge Kolkrabe sehr traurig. Er war für seine Artgenossen also ein unerwünschter Fremdling.

Eines Tages, als er einsam in den Lüften kreiste, sah er eine Maus auf der Wiese unter sich. Seltsamerweise bewegte sich die Maus nur mehr sehr zaghaft.

»Ah, eine gute Beute für einen hungrigen Raben!« dachte er sich und setzte zum Sturzflug an. Kurz über dem Boden vernahm er ein Gejammer, das von seiner noch nicht gefangenen Beute, der Maus, stammen musste. Der Rabe bremste seinen Flug und setzte sich neben die Maus. Er hatte bemerkt, dass die Maus schwer verletzt war.

»Was hast du denn, Maus?« fragte der Rabe. Die Maus blickte ihn in all ihrer Angst verdattert an.

»Aber Rabe, wieso machst du denn Halt vor mir? Wäre ich nicht eine ideale Beute? Es wäre dir doch ein Leichtes, mich zu fressen!«

»Ach, weißt du, die Menschen haben mich seinerzeit auch nicht aufgefressen, als sie mich fanden…«, meinte der Kolkrabe nachdenklich.

Die Maus blickte noch verdatterter drein. »Welche Menschen?«

»Ist jetzt nicht wichtig, das erzähl' ich dir später. Jetzt ist wichtig, dass ich dir helfe, wo du doch so arg verletzt bist. Komm, klettere auf meinen Rücken, Maus, wenn du kannst.« Sie konnte. So flogen sie zu dem Horst des Raben. Dort erfuhr der Jungrabe, dass die Maus von einem Habicht angefallen worden war, und als dieser eine dickere Maus sah, hatte er sie liegen gelassen. Und der Rabe erzählte der Maus seine Geschichte.

Nach ein paar Tagen war die Maus wieder auf den Beinen, dank des Raben, denn dieser hatte die Maus mit etlichen Schnäbeln voll frischem Wasser, gutem Salat, fetten Körnern und einer weichen Schlafstätte gesund gepflegt. Da fragte die Maus den Raben: »Du, Rabe! Wie ist das jetzt eigentlich? Möchtest du mich noch fressen?«

»Nein, Maus, auf keinen Fall will ich dich fressen! Wie kommst du nur darauf? Überhaupt habe ich keine Lust mehr, Tiere umzubringen. Du frisst ja auch nur Pflanzen und Körner und lebst trotzdem gut. Ich werde es machen wie du und Pflanzen, Körner und Früchte fressen.«

Daraufhin verlangte die Maus, dass er sie auf den Boden setzen und im Horst auf sie warten solle. Dann sagte sie noch, dass sie einen schrillen Mäusepfiff ausstoßen werde, würde sie wieder von irgendeinem Habicht oder anderen Räubern angefallen. Dann solle der Rabe schnellstens kommen. Der Rabe wusste zwar nicht, was sie vorhatte, ließ die Maus aber dann doch hinunter.

Ein paar Stunden waren schon vergangen, und der Rabe machte sich bereits große Sorgen um die Maus, als plötzlich von Osten her ein schriller Mäusepfiff ertönte.

»Das kann nur die Maus sein!« dachte der Rabe und flog, so schnell er konnte, dorthin, wo er die Maus vermutete. Ja, er hatte richtig vermutet, dort saß die Maus mit einem kleinen Paket aus Körnern, die in ein Blatt gehüllt waren, in den Pfoten, das sie dem Raben überreichte. Aber dies war nicht die einzige Überraschung, die die Maus für den Raben bereithielt. Neben ihr saß eine (für Rabenverhältnisse) wunderschöne ,wenn auch etwas irritiert aussehende Rabenjunggesellin. Der Rabe und die Rabendame starrten einander mit bewundernden und immer verliebter werdenden Blicken an, was die Maus befriedigt zur Kenntnis nahm. Es würde wohl bald eine Rabenhochzeit geben.

Wie die Maus dem Raben später erzählte, hatte sie von ihrem Krankenlager im Horst aus eine Rabendame beobachtet, die offensichtlich neu hier war. Die Maus hatte lange darüber nachgedacht, wie sie ihren Freund, den Raben, und die Rabendame zusammenbringen könnte und hatte sich folgenden Plan ausgedacht: Nachdem sie der Rabe freigelassen hatte, wartete sie auf dem Waldboden hinter einem Busch vor dem Wohnbaum der Rabendame, bis diese sich vor dem Busch niederließ. Da begann die Maus aus ihrem sicheren Versteck mit der lautesten Mausestimme, zu der sie fähig war, zu sprechen:

»Liebe Rabendame! Ich werde dir jetzt die dramatische Geschichte eines ganz außergewöhnlichen Raben erzählen. Er hat ein gutes Herz, ist stattlich und herrlich anzusehen mit seinem glänzend schwarzen Gefieder, dem kräftigen Schnabel, den großen Schwingen und seinen wunderschönen Rabenaugen ….« Sodann erzählte die Maus der Rabendame die Geschichte des einsamen Raben und trat dabei nach und nach hinter dem Busch hervor, denn sie merkte, dass die Rabenfrau zu beeindruckt und neugierig war, um die Maus zu fressen. (Mittlerweile kannte sie Raben schon recht gut.) Dann brauchte die Maus nur mehr den Raben herbei zu pfeifen, und alles fügte sich von selbst zum

Besten.

Bald flog das frisch verliebte Rabenpaar vor Glückseligkeit und Liebesglück tollkühne

Loopings und Synchronfiguren unter dem blauen Himmel. Und wenn sie nicht gestorben sind, so fliegen sie als altes Ehepaar nach Feierabend noch heute.