Martin Bangratz (12)

Da liegt der Hund begraben oder: Die Nacht der lebenden Hunde

»Auf Wiedersehen…«, flüsterte Inge traurig. Still und heimlich begrub sie ihren armen Hund Picasso mitten in der Nacht im Garten. Tränen füllten wieder ihre Augen, aber sie überwand sich. »Er wird schon sehen, was er davon hat! Er wird schon sehen, ob es mir etwas ausmacht!« rief sie wütend und machte sich mit ihrem Spaten auf den Weg zurück zum Haus ihrer Eltern.

Ein Jahr später sah alles anders aus. Inge hatte den dummen Hund vergessen. Sie lebte zusammen mit ihrem Freund in einem eigenen Haus und hatte sogar ein paar Aktien gekauft, die gar nicht mal so schlecht gingen. Eine gute Investition.

Noch ein Jahr später sah wieder alles anders aus. Die Aktien waren gefallen. Stark gefallen. Inge hatte überall Schulden, wo man nur überhaupt welche haben kann. Hungernd saß sie am Boden in ihrem Haus und fror. Die eine Hälfte der Möbel war gepfändet und die andere verheizt. Wenn sie nur etwas zu essen hätte!

Da fiel ihr etwas ein. Picasso! Sie war so hungrig, dass sie selbst Hunde essen würde. Also nahm sie den selben Spaten wie beim letzten Mal (eines der wenigen Dinge, die nicht gepfändet worden waren), ging hinaus in den zur Zeit schneebedeckten Garten und fing an zu graben. Es war bereits dunkel. Der Wind heulte und wirbelte Schnee durch die Luft und Inge ins Gesicht. Je tiefer sie grub, desto mehr Angst stieg in ihr auf. Der Boden war hart gefroren und wollte kaum nachgeben. Trotzdem trieb sie der Hunger dazu an, Millimeter für Millimeter weiterzugraben.

Plötzlich fiel ihr etwas äußerst Dummes ein: Sie grub an der falschen Stelle. Frierend ging sie zu der Stelle unter dem Baum, wo der Hund wirklich lag. Wieder begann sie zu graben. Langsam bekam sie Frostbeulen an den seltsamsten Körperteilen. Wenn sie nicht bald den Hund fand, würde sie erfrieren oder verhungern.

An dieser Stelle war der Boden seltsam weich. Als hätte schon vor ihr jemand hier gegraben. Plötzlich stieß sie auf einen Hohlraum. Genau da, wo Picasso früher gelegen hatte. Jetzt zeugte nur noch ein Knochen, der wohl das Schlüsselbein gewesen sein mochte, von ihm. Was hatte man nur mit Picasso gemacht?

Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch. Ein Blitz durchzuckte den Himmel und zeigte für den Bruchteil einer Sekunde alles, was sich zuvor in der Dunkelheit versteckt gehalten hatte. Was Inge da sah, verschlug ihr den Atem. Er waren Hunde. Viele Hunde. Viele tote Hunde. Alle waren zerfetzt und wirklich nur noch Haut und Knochen. Einer davon sah Picassos Überresten überraschend ähnlich. Er schien ihr Anführer zu sein. Picasso öffnete geräuschvoll das Maul, wobei ihm eklige Fetzen herausliefen. Schleim und Schaum tropfte aus seinen Mundwinkeln. Einer seiner Hände war abgefallen, die hielt er in der anderen.

»Du Verräterin«, formten sich die krächzenden Worte in seinem Mund. Man hörte, dass es sein erster Versuch war zu sprechen. Böse wurde Inge von vielen Hundeaugen, die teilweise aus den Augenhöhlen hingen, angefunkelt. Den Schrei, der daraufhin die Stille zerriss, hörte man noch fünf Straßen weiter.