Kerstin Allram (13)

Was sind Fremde?

Nun, die ganze Geschichte fing schon vor einigen Jahren an. Natalie wuchs in einer riesigen Villa auf. Ihr Vater besaß ein großes Hotel, sodass Natalies Familie jeden Luxus genoss und sich nahezu alles leisten konnte. Neben einem Swimmingpool und einem Garten, der eher einem Park glich, zählte sogar ein Reitstall zu ihrem Besitz. Es waren viele Bedienstete nötig, um das gesamte Anwesen in Stand zu halten. Einige von ihnen waren inzwischen Natalies Freunde geworden. Sie, die damals erst acht Jahre alt war, munterte jeden mit ihrer Art, ihr sorgloses Leben zu genießen, auf. Ausserdem hatte Natalie das Grundstück ihrer Familie noch nie verlassen dürfen. So bekam sie nie die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen zu spielen. Natalies Mutter wollte das auch nicht, weil sie meinte, andere Kinder könnten ihre Tochter verderben. Deswegen mochte Natalie ihre Mutter nicht besonders.

Um so besser konnte Natalie ein paar Angestellte leiden, die manchmal ihre Arbeit liegen ließen, um mit der Tochter ihres Arbeitgebers Spaß zu haben. Natalie war meist ein fröhliches Kind.

Eines Tages aber (es war Natalies neunter Geburtstag) änderte sich dies schlagartig. Das Kind wollte gerade in die Küche spähen, ob Maria, die Köchin des Hauses, ihre Geburtstagstorte schon fertig verziert hätte. Gerade, als sie die Tür aufstoßen wollte, hörte sie ein Klirren im Inneren des Raumes. Da sich offenbar jemand in der Küche befand, blieb Natalie stehen. Bei der Tür, die direkt von der Küche in den Speisesaal führt, wurden trippelnde Schritte hörbar. Das war wohl Natalies Mutter.

Natalie vertrug sich mit manchen Bediensteten besser als mit ihrer eigenen Mutter, was dieser gar nicht recht war. Doch sie kümmerte sich nur ab und zu um ihre Tochter und so war gar nichts anderes zu erwarten. Natalies Vater war die meiste Zeit in seinem Büro. Aber wenn er einmal nicht arbeiten musste, beschäftigte er sich mit Natalie. Diese mochte zwar seine Art nicht, sich immer mit erschreckend vielen Fremdwörtern auszudrücken, aber sie konnte mit jeder Frage zu ihm kommen.

Eine schrille Stimme ertönte. Jetzt war sich Natalie sicher, dass dies ihre Mama war. Leider konnte sie durch die Türe nicht genau verstehen, was gesprochen wurde. Es war aber nicht schwer zu verstehen, dass die Dame des Hauses sehr wütend war. Natalie öffnete die Tür gerade einen Spalt breit, als ihre Mutter sich bereits von Maria abgewandt hatte, welche verzweifelt versuchte etwas, das aussah wie einfaches Wasser, auf zu wischen. »Ich wusste, dass es ein Fehler war, eine Fremde einzustellen. Sie machen doch nur Ärger…«

Damit verließ Natalies Mutter die Küche wieder und ging in den Speisesaal. Nun kam Natalie wieder der Mut, um einzutreten. Nur kurz sah Maria auf und widmete sich dann wieder dem Aufwischen. Natalie konnte erkennen, dass es Suppe war, die sich am Boden ausbreitete. Als das Kind ihrer Chefin beim Saubermachen helfen wollte, bedankte sich diese nur kurz und legte den Lappen, den Natalie geholt hatte, zurück an seinen Platz. Natalie sollte sich besser für die Feierlichkeiten bereit machen. Natalie war sich nicht sicher, aber es schien ihr, als ob Maria ein Weinen unterdrücken wollte.

Natalie schlenderte gerade den Gang, der zu ihrem Zimmer führte, entlang und dachte darüber nach, was gerade passiert war: »Maria schüttet Suppe aus. Obwohl es nur wenig ist, wird Mama wütend. Sie sagt, dass sie nichts davon halte, Fremde einzustellen. Ist Maria eine Fremde? Was sind Fremde denn eigentlich?« Nachdem Natalie ihr Feiertagskleid angezogen hatte, marschierte sie in Papas Büro, um zu erfahren, was »Fremde« bedeutet.

Bevor Natalies Vater antwortete, musste er sich räuspern. Anscheinend war es ihm peinlich, dass seine Tochter, durch das Verhalten seiner Frau auf diese Frage gebracht worden war. Nach kurzem Überlegen begann er zu sprechen: »Weißt du, jeder definiert fremd anders. Da ist es nicht, leicht neutral zu bleiben.« Als er Natalies verwirrtes Gesicht (»Papa kann wohl nie in unserer Sprache sprechen«) sah, fuhr er fort: »Du weißt ja, dass Papa ein Hotel leitet. Dorthin kommen Leute und wohnen dort, genießen ihre Freizeit. Die meisten dieser Leute sind Fremde. Sie bezahlen dafür, an einem Ort zu wohnen, an dem sie sich um nichts sorgen müssen. Sie genießen nur. Wenn auch nur für kurze Zeit. Alles klar?« Natalie sprang von Vaters Schoß auf, auf dem sie sich niedergelassen hatte und ging wieder aus seinem Büro.

Das Kind hatte sich angewöhnt, alles, was sie erlebte, zu überdenken, um nichts falsch zu verstehen. So fasste sie die Erklärung ihres Papas in Gedanken zusammen:

»Fremde sind Leute, die es genießen, ein paar Tage lang nicht zu Hause zu wohnen und dafür Geld zu bezahlen.«

Aber sie gab sich mit dieser Antwort nicht zu frieden. Sie wollte noch jemanden fragen. So ging sie zu Camilla, einer Gärtnerin. Diese war meist die erste Person, die Natalie um Hilfe bat. Nur diesmal hatte sie sich gedacht, dass ihr Vater als Geschäftsmann ihr besser helfen könne, wobei sie sich geirrt hatte. »Camilla? Was sind Fremde?« fragte das Mädchen wieder. »Nun«, überlegte die Angesprochene. »Dir wird bestimmt aufgefallen sein, dass Maria sich manchmal – nun ja – unbeholfen ausdrückt. Sie hat auch eine etwas dunklere Hautfarbe als wir. Das kommt daher, dass sie eine Fremde ist. Sie ist nicht in dem selben Land wie wir geboren ist. Leider werden solche Ausländer oft verspottet. Nur weil sie anders sind. Manche Menschen schlagen Ausländer sogar. Du musst immer versuchen, Ausländern zu helfen, wenn sie in Not sind. Es ist sehr ungerecht, jemanden nur wegen seines Aussehens zu peinigen. Wir sind ja doch alle gleich.«

Natalie bedankte sich und machte sich wieder auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Als sie wieder den Gang entlang ging, dachte sie über alles nach:

»Fremde sind Leute, die es genießen, ein paar Tage lang nicht zu Hause zu wohnen und dafür Geld zu bezahlen. Sie sind nicht in unserem Land geboren, sehen anders aus und werden benachteiligt.«

Natalie hatte ihre Zimmertür noch nicht lange hinter sich zugemacht, als sie wieder geöffnet wurde. Natalies Mutter trat ein. Das Kind fragte seine Mutter nach ihrem Verhalten in der Küche. Eigentlich hatte es das nicht vorgehabt, aber jetzt, wo sie schon einmal hier war…

»Du kannst das alles natürlich noch nicht beurteilen, aber du wirst das hoffentlich schon noch lernen«, fing sie etwas zaghaft an. »Fremde sind sehr gefährlich. Es sind Menschen, von denen du nicht weisst, wie sie heissen und wo sie leben. Das kann sehr gefährlich sein, weil du nicht weißt, ob dieser Mensch die Wahrheit sagt.«

»Aber wie kann Maria eine Fremde sein, wenn wir doch wissen, wo sie wohnt und wie ihr Name lautet?« stocherte Natalie nach.

»Genug für heute. Bald werden die Gäste eintreffen.«

»Wenn aber die selben Leute kommen werden, die voriges Jahr hier waren, dann sind mir die meisten fremd. Ich weiss oft ihren Wohnort nicht.«

»Das ist etwas anderes. Mach dich jetzt fertig.« Natalies Mutter verließ das Zimmer. Wieder hatte sie sich so verhalten, dass Natalie erkannte, dass ihre Mama keine liebenswerte Person war und dass es wohl ein Fehler gewesen war, sie gefragt zu haben.

Trotzdem wiederholte das Mädchen sein neues Wissen, das es erlangt hatte, wenn es auch nur wenig war:

»Fremde sind Leute, die es genießen, ein paar Tage lang nicht zu Hause zu wohnen und dafür Geld zu bezahlen. Sie sind nicht in unserem Land geboren, sehen anders aus und werden benachteiligt. Ausserdem sind sie gefährlich, weil man ihren Namen und ihren Wohnort nicht kennt.«

Natalie konnte nicht mehr ruhig sitzen. Diese Sache beschäftigte sie so sehr, dass sie immerzu daran denken musste. Das alles konnte ja nicht zutreffen. Irgend jemand hatte ihr eine falsche Antwort gegeben. Sie beschloss wieder in die Küche zu Maria zu gehen. Dort angekommen sah sie die Köchin, wie sie gerade der Torte den letzen Schliff verpasste. Natalie teilte Maria die Meinung ihrer Mutter mit und fragte sie, was sie denn glaube, was »fremd« bedeutet. Ob Maria wirklich fremd wäre, wollte sie auch wissen. »Fremd ist man nur dann, wenn man sich fremd fühlt: Man fühlt sich fehl am Platz. Alles rundherum ist anders, man selbst ist anders. Wenn dich die Menschen verspotten, oder wenn sie dich einfach ignorieren, kann das ein Anlass sein, dass du dich fremd fühlst. Auch wenn du keine Freunde hast und sich die Menschen um dich für andere Dinge interessieren, als du es tust, kann dieses Gefühl in dir aufkommen.«

Weil die Gäste jetzt wirklich bald kommen würden, ging Natalie wieder zurück in ihr Zimmer und dachte über alles nach, während sie ihr Haar zusammenband: »Fremde sind Leute, die es genießen, ein paar Tage lang nicht zu Hause zu wohnen und dafür Geld zu bezahlen. Sie sind nicht in unserem Land geboren, sehen anders aus und werden benachteiligt. Ausserdem sind sie gefährlich, weil man ihren Namen und ihren Wohnort nicht kennt. Man selbst kann jederzeit fremd werden, ist aber nur dann fremd, wenn man sich so fühlt. Es gibt viele Gründe, warum man sich fremd fühlen kann.«

Ganz verwirrt ging Natalie zu ihrer Geburtstagsfeier. Wieder waren nur Erwachsene gekommen, was die Feier nicht lustiger machte. Die besten Freunde von Natalie durften nicht kommen. Bedienstete waren nicht erlaubt. Aber Natalie feierte jedes Jahr mit Maria, Camilla und den anderen etwas später.

Während sich alle unterhielten und Natalie auf ihrem Platz saß, musste sie ständig überlegen. Es kann doch nicht sein, dass alle Meinungen zutreffen. Dafür sind sie zu unterschiedlich. Da kam Natalie auf die Idee, dass sie doch jetzt fremd wäre und nach längerem Nachdenken war sie zum Schluss gekommen, dass man sich erst einmal fremd fühlen muss, damit man versteht, was es bedeutet. Nun wusste sie, was es heisst, sich fremd zu fühlen. Alle sprachen über Dinge, die ihr unwichtig schienen, und niemand kümmerte sich um sie.

Natalie nahm sich vor, sich um jeden Menschen zu kümmern. Sie wollte nicht, dass jemand das selbe erlebte, was sie es gerade in diesem Moment erlebte.

Nach einigen Jahren wollte Natalies Vater, dass seine Tochter sein Hotel übernähme. Sie, die mittlerweile achtzehn Jahre alt geworden war, hielt es für dumm, nur um Geld zu verdienen tagelang im Büro zu sitzen und dann doch nur Sorgen zu haben.

Obwohl sie alles haben konnte, oder gerade deshalb, ging Natalie von zu Hause fort. Sie beschloss, in Amerika zu leben, um dort Medizin zu studieren. Natalie wollte denen helfen, die in Not geraten, und überall, sogar zu Hause fremd geworden waren.

Ihre Mutter war zwar genauso wenig damit einverstanden wie ihr Vater, doch sie legte keinen Wert mehr auf die Meinung ihrer Eltern. Nach einigen Jahren (Natalie hatte ihren Eltern trotz es Streites Briefe geschrieben) besuchte Natalie ihre Eltern.

Inzwischen waren acht Jahre vergangen, sie hatte geheiratet. Nun lebte Natalie in Afrika, wo sie auch im Rahmen eines Projektes arbeitete. Viele Länder schickten Ärzte in Gebiete, in denen Missstände wie Hunger herrschen, um dort den Menschen wenigstens medizinische Versorgung möglich zu machen. Dort, in Afrika, hatte sie auch ihren Mann kennengelernt.

Als Natalies Eltern sahen, dass ihr Mann eine dunkle Hautfarbe besaß, wollten sie beide sofort wieder wegschicken. Sie ließen sich aber dazu überreden, ihn wenigstens kennenzulernen. Anscheinend freundete sich Natalies Vater schnell mit dem neuen Mitglied der Familie an, denn er führte ihn bald durchs ganze Haus, um ihm alles zu zeigen.

Nun waren Natalie und ihre Mutter allein. Nach kurzem Schweigen begann ihre Mutter zu sprechen: »Wieso bist du denn fort gegangen? Du hättest es hier so gut haben können.«

»Kannst du dich noch an jenen Tag erinnern, an dem ich erfuhr, was ein Fremder ist?« entgegnete ihr ihre Tochter. Stummes Nicken veranlasste Natalie zum Weitersprechen.

»Ich habe damals nicht nur dich gefragt, was denn dieses Wort bedeutet. Es hat mir zwar jeder etwas anderes geantwortet, aber ich bin später selbst darauf gekommen, dass Maria, die, um es mit deinen Worten zu sagen, ja immer nur Ärger macht, Recht gehabt hat. Weisst du auch, warum sie diese Frage richtig beantworten konnte? Weil sie sich selbst fremd gefühlt hat. Wegen dir. So beschloss ich zu verhindern, dass andere Menschen das Gefühl erleben müssen, allein gelassen zu werden. In meinem Beruf kann ich zwar nur wenigen Menschen helfen, aber es ist wenigstens ein Anfang. Das ist immer noch besser als in einem Büro zu sitzen. Sich sorgen um andere Menschen zu machen ist besser, als sich um Geld zu sorgen. Jetzt bitte ich dich, meinen Mann nicht auch noch als fremd zu sehen. Es ist schon schlimm genug, dass du Maria unglücklich gemacht hast. Vielleicht kannst du dich ja sogar bei Maria, der alten Dame, entschuldigen?«

»Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich tun und lassen soll.«

»Das kann ich nicht, aber lerne Maria und meinen Mann doch besser kennen. Denn: Wenn man Fremde kennt, kann es nur sein, dass es Fremde waren