Kathrin Wolf (12)

Kipfelmursel

1.

Im Jahre 1000

Es war einmal ein Schlossgespenst namens Archibald. Es lebte in einem Schloss am Rande einer großen Stadt und war sehr einsam. Nicht einmal am Erschrecken der alten Leute, die im Schloss wohnten, hatte es seine Freude.

»Hätte ich doch nur eine Freundin!« dachte es eines Nachts und schwebte aufs Dach. Traurig blickte es in die Dunkelheit.

Plötzlich sah es einen kleinen Schatten. Nach einiger Zeit konnte Archibald eine kleine Gestalt erkennen, die auf das Schloss zuging. Neugierig flog er durch die Dachluke in die Dachkammer. Mit einem lauten Krach flog nach einer Weile das schwere Tor unten im Hof zu. Archibald hörte die Treppe knarren. Dann war es wieder still. Das Schlossgespenst blieb noch lange wach, doch als die Sonne aufging, fielen ihm die Augen zu.

Er träumte, dass ein nettes Gespenstermädchen ins Schloss gekommen war, um ihm Gesellschaft zu leisten. Ein lautes Klopfen ließ Archibald aus dem Schlaf schrecken. Verwundert sah er auf die alte Pendeluhr. »Erst Mittag!« rief er ein wenig ärgerlich. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Er war doch so neugierig gewesen auf den neuen Mitbewohner.

»Hallo? Ist hier jemand?« Mit einem Ruck ging die Tür auf, und ein kleines Trollmädchen mit blauen Haaren watschelte ins Zimmer.

»Iiiiih! Du bist ja eines von diesen ekelhaften fliegenden Bettlaken. Und ich dachte, das Schlösschen wäre unbewohnt!« kreischte es und schlug die Tür wieder zu.

Archibald rührte sich nicht von der Stelle. »Halt! Warte doch!« schrie er nach einer Weile und folgte dem seiner Meinung nach hübschesten Wesen, das er je gesehen hatte.

»Was willst du noch?« fragte das Trollmädchen etwas traurig. »Reicht es denn nicht, dass ich euretwegen meine Familie verlassen musste?«

»Wovon redest du?« meinte er mitleidig, obwohl er genau wusste, dass die Sumpfgeister seit Jahrhunderten die Trolle ärgerten und sie bestahlen. »Wahrscheinlich hatten die Trolle sie fortgeschickt, weil sie glaubten, sie hätte etwas gestohlen«, dachte Archibald und sagte mitleidig: »Mit den Sumpfgeistern liegen wir Schlossgespenster seit Jahren im Streit, weil sie so grausam sind.«

»Übrigens, ich heiße Rutina. Würdest du mich bei dir wohnen lassen?« fragte die Trollin vorsichtig.

»Aber natürlich«, antwortete Archibald und versuchte zu verbergen, dass sein Gesicht blau strahlte.

2.

500 Jahre später

Die große Stadt hieß inzwischen Graz und war noch um einiges gewachsen. Auch im Leben von Archibald und Rutina hatte sich einiges geändert. Archibald hatte sich daran gewöhnt, nachts zu schlafen und am Tag wach zu sein. Trotzdem zählten sie jede Nacht gemeinsam die Sterne.

Und sie hatten einen Sohn. Er hieß Kipfelmursel und war ein kleines Schlossgespenst mit blauen Haaren. Allerdings bereitete er seinen Eltern große Sorgen. Denn alles, was er mit seinen roten Augen anschaute, löste sich in Luft auf. Das war der Grund, warum im Schloss nur noch ein einziger Sessel stand. Gott sei Dank konnte er mit seinen Blicken keine Lebewesen verschwinden lassen.

Als eines Tages auch das letzte Möbelstück der Familie verschwunden war, gingen sie zu Doktor Knurzelwurz, der vorwiegend Gespenster behandelte, und fragten ihn um Rat.

»Nein, Mami! Bitte nicht!« rief Kipfelmursel zum fünften Mal. »Ich will keine Brille!«

Schließlich ließ Kipfelmursel sich doch überreden und trug von nun an die sehr wirksame Brille, die das Leben der Familie erleichterte.

3.

Im Jahr 2000

Kurz vor Ostern wurde es Kipfelmursel zu bunt. Abermals versuchte sein Vater, ihm zu erklären, dass er nicht im ganzen Schloss umherschweben dürfte. Der Grund war eine Gruppe von Kindern, die sich dort eingenistet hatte.

Trotz des Verbots seines Vaters schlich Kipfelmursel kurz vor 12 im Schloss herum. Vor dem Zimmer 209, er wusste, dass darin ein gewisser Martin Ohrt wohnte, blieb er stehen. Ein lautes Schnarchen war zu hören. »Ich werde den Insassen dieses Zimmers nur ein wenig erschrecken«, dachte er und öffnete die Tür ...