Iris Vukovics (11) 1. Preis

Der Schwan der Zeit

Aurelia läuft. Sie kommt zur großen Uhr am Bahnhof. Oh Gott, schon zwei Uhr, wie soll sie da noch rechtzeitig zur Klavierstunde kommen? Sie muss um drei Uhr wieder weg und schnell die Hausübung machen, denn sie hat ihren Eltern versprochen, ihren kleinen Bruder um vier vom Kindergarten abzuholen. Ach ja, Rosa, ihrer besten Freundin, hat sie auch zugesagt, sie heute zu besuchen. Natürlich muss sie um halb sieben zum Abendessen zu Hause sein. Sie rennt weiter. Die Straßenbahn fährt ihr vor der Nase davon. Während sie auf die nächste wartet, denkt sie über den morgigen Tag nach. Nach der Schule geht sie mit Paula, ihrem Kindermädchen, ins Kino; anschließend der Tanzunterricht und um fünf die Reitstunde. Wie soll sich das bloß ausgehen?

Nacht. Finsternis. Nur der Vollmond spiegelt sich im Teich. Aurelia stapft in den Holzpantoffeln ihres Vaters und in ihrem Pyjama in den Garten hinaus. Dann setzt sie sich auf einen Stein am Rande des Gartenteiches. Sie sieht lange auf das Spiegelbild des Mondes. Plötzlich beginnt sich das Wasser zu kräuseln, und Aurelia hält sich die Hand vors Gesicht, um sich vor einem plötzlichen Windstoß zu schützen. Ein grelles Licht blitzt kurz auf, und das Bild des Mondes verschwimmt und formt sich neu. Aus der Spiegelung steigt ein Schwan, groß und weiß, mit gutmütigen Augen. »Aurelia«, flüstert er, »steig auf.«

Dann, als Aurelia auf seinem Rücken sitzt, hebt er ab. Er gleitet durch die Luft, hoch hinauf bis über die Wolken. »Wohin fliegst du mit mir?« fragt Aurelia.

»In deine Seele, meine Kleine. Ich bin der Schwan der Zeit; meine Aufgabe ist es, dir etwas zu zeigen. Du hast einen weiten, beschwerlichen Weg vor dir, also schlafe.« Aurelia kuschelt sich in seine weichen Federn und findet endlich Ruhe.

»Aurelia, wach auf!« Sie öffnet die Augen. »Wir sind da. Nun musst du alleine weiter. Zuerst durch die Schlucht der Stille, dann über den See der Ruhe, und erst im Schloss der Seele treffen wir uns wieder. Wenn du dort bist, dann ...« – der Schwan stockt. »Ich muss gehen.«

Mit diesen Worten fliegt er davon. Aurelia sieht ihm nach, bis sie ihn nicht mehr erkennen kann. Sie denkt nach: »Er ist die Zeit ... Was will er von mir? ...« Von Fragen getrieben, wandert sie los.

Plötzlich bleibt sie stehen. Vor ihr tut sich ein Abgrund auf. Viele hunderte Meter geht es steil hinunter. Mit den Augen sucht sie den Rand nach einer Stelle ab, an der sie hinunterklettern kann. Sie bemerkt eine alte Leiter, die ihr noch halbwegs sicher erscheint, und beginnt abzusteigen. Nach hundert Metern fängt sie an zu schnaufen, aber sie zwingt sich, weiterzuklettern. Endlich spürt sie festen Boden unter den Füßen.

Aurelia siht sich um. Kein einziges Lebewesen ist zu sehen. Was sie aber am meisten bedrückt, ist die Stille. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Sie wagt die ersten Schritte und marschiert dann Richtung Norden. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebt sie die absolute Ruhe, ohne Hektik. Es kommt ihr unheimlich vor, doch mit der Zeit gewöhnt sie sich daran. Sie wird auch nicht müde, denn die Zeit steht still.

Nach langem Wandern kommt sie zum Ufer eines Sees. Ein Boot ist an einem Pflock befestigt. Aurelia steigt in das Boot und löst den Strick. Dann nimmt sie die Ruder in die Hand. Rudern hat sie bei den Pfadfindern gelernt. Um sie herum schwimmen Frösche, und einige Vögel kreisen in der Luft, doch alles passiert in Zeitlupe, auch ihre eigenen Bewegungen. Krampfhaft versucht sie, sich schneller zu bewegen – ohne Erfolg. Es ist Aurelia unangenehm, dass alles so langsam, so ruhig ist, dass sie nicht aus ihrer Haut hinausschlüpfen kann. Aber je weiter sie sich vom Ufer entfernt, um so mehr gewöhnt sie sich daran. Aurelia merkt, wie schön es ist, sich Zeit zu lassen, einmal auszuspannen. Als sie das feststellt, sieht sie in der Ferne schon das Schloss.

Es ist aus lauter Blumen, jeder Art. Viele blühen, aber manche verwelken. Aurelia springt an Land und läuft auf das Schloss der Seele zu. Sie zerrt heftig an den großen Torflügeln. Nichts geschieht. Aurelia drückt etwas dagegen. Das Tor geht auf, und sie sieht um sich herum alles rückwärts ablaufen. Das Schloss, den See, die Schlucht und den Flug auf dem Schwan; alles. Ihr ganzes Leben wird verkehrt abgespult. Aurelia bemerkt die Hektik, dass sie sich keine Zeit läßt. Aurelia denkt an die Schlucht, an den See und daran, wie schön es war – still und ruhig. Sie beschließt, sich in Zukunft nicht mehr so zu hetzen. Langsam geht sie in den nächsten Raum. Aus diesem führt eine Treppe nach oben. Auf jeder Stufe sieht sie einen Abschnitt ihres Lebens. Es dauert lange, bis sie oben angekommen ist.

Dort sitzt der Schwan. Aurelia erzählt ihm von ihrem Entschluss, sich mehr Zeit zu lassen. Der Schwan erklärt: »Meine Kleine, du warst ein hektisches Mädchen, das sich ihre Zeit nicht einteilen konnte. Ich habe dich geholt, um dir zu zeigen, wie schön es ist, sich nicht zu hetzen. Du hast gemerkt, dass man etwas erst richtig genießen kann, wenn man sich die Zeit dafür läßt. Deswegen habe ich dich geholt. Ich, der Schwan der Zeit, die Zeit selbst. Die Blumen, die du gesehen hast, sind Menschenleben. Deine Blume war verwelkt, doch jetzt ist sie erblüht. Wenn du weiter so denkst, dir deine Zeit einteilst, bleibt sie so. Aurelia, wir werden uns nie wiedersehen; aber, wenn du in dich hineinhorchst, bin ich da, deine Zeit. Nun schlafe. Wenn du aufwachst, bist du in deinem Bett, aber denke nicht, es war ein Traum.«

Aurelia schläft ein, den Kopf auf den Schwan gelegt. Vergessen wird sie ihn nie, denn Zeit kann man nicht vergessen. Sie ist ein Teil von dir.