Laura Steiner (13) 9. Preis

Keine Zeit für Phantasien?

"Du musst aufwachen!" Eine zarte Stimme, mit so viel Gefühl, wie ich es noch nie gehört habe, weckte mich aus meinen schrecklichen Alpträumen.

Ich hatte schon so lange ich denken konnte, jede Nacht schreckliche Träume. Einmal fiel ich von einer fürchterlich hohen Klippe. Ich landete, spürte die stechenden Schmerzen im Herz, als würde es mich zerreißen und ich konnte nicht atmen. Kurz bevor ich erstickt wäre, wachte ich auf.

Dieses Mal, war eine tödliche Krankheit in meinem Traum ausgebrochen. Ich konnte nichts tun und musste zuschauen, wie alle Menschen, die mir etwas bedeuteten in Schmerz und Elend langsam starben ...

Ich lag schweißgebadet in meinem Bett, der Kopfpolster war ganz nass. Ich hatte geweint ...

"Nur du kannst uns helfen!" Bat die wundervolle Stimme sanft. Ich rieb verschlafen meine Augen. Mit völliger Verwunderung, starrte ich auf die Gestalt die vor mir stand.

Ihre Augen schauten mich so ängstlich und treu an, wie warme, braune Augen eines Hundes, der gerade geschlagen worden waren. Die rot-orange-blonden Locken glänzten so, wie die untergehende Sonne am Horizont und die Lippen waren rot, wie die Blätter im Herbst, die von den Bäumen fallen. Sie legte ihre weichen Hände auf mein Gesicht. Sie waren so weich, wie die Wölkchen an einem strahlend, blauen Sommerhimmel. "Bitte hilf uns!" flehte dieses wunderschöne Geschöpf, das wunderbarste, das ich je gesehen hatte. Eine kleine Träne rann über ihr schmales Gesicht. Ich war völlig aus der Fassung gebracht worden und legte meine Hände über ihre. Ein Lächeln, so süß, dass man alle Sorgen vergessen möchte, huschte über ihr Gesicht. Sie nahm mich sanft an meiner Hand und wir schwebten aus meinem Zimmerfenster, über unsere verdreckte Grossstadt hinweg.

Ich wurde, je näher wir dem dunklen Himmel kamen, immer müder. Dann bin ich wahrscheinlich eingeschlafen. Als ich aufwachte, erschrak ich mich, denn ich schaute direkt in die Augen von diesem Mädchen. Sie legte ihre geschmeidigen Finger auf ihren Mund. Ihre Augen schauten mich beruhigend an. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern, nur mehr an das, dass ich mit diesem wunderschönen Mädchen immer näher den Sternen und dem Mond geschwebt war.

Endlich fasste ich mich wieder. Ich konnte mich kaum von ihrem Blick losreißen. Es war so ein wohliges Gefühl und es kam jedes Mal wieder, wenn sich unsere Blicke trafen. Um mich herum war alles wie im Paradies. Neben uns war ein silbern, glitzernder See, auf dem hellrosarote Seerosen blühten. Ich saß mit diesem Mädchen in mitten einer endlos, gross erscheinenden Blumenwiese. Hier blühten Blumen, die ich noch nie gesehen hatte. Weit von uns beiden entfernt, sah ich ein paar Weide- und Obstbäume. Der Himmel war, wie im Bilderbuch, blau mit kleinen Wattewölkchen.

"Wirst du uns helfen?" fragte mich das Mädchen und hatte schon wieder diesen Herz zerreißenden Hundeblick in ihren Augen.

"Wem `UNS`?" fragte ich das Mädchen leise.

"Meiner Welt und mir..." meinte sie mir traurig.

"Was ist denn mit deiner Welt und was ist mit dir?" fragte ich sie, "und wo bin ich hier? Wo ist deine Welt?"

"Meine Welt ist in dir. Sie ist in allen Menschen. Ich bin deine Phantasie. Ich bin die Phantasie aller Menschen ...

erklärte sie mir.

"Und wobei soll ich dir helfen?" murmelte ich leise.

"Die Menschen haben immer weniger Zeit, um ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und deswegen verschwindet meine Welt immer mehr. "Früher, da sind da" das Mädchen zeigte zu einem der Weidenbäume, "hunderte von Weidenbäumen, Nadelbäumen und Obstbäumen gestanden ... aber jetzt, wo niemand sich mehr Zeit nimmt, um an so etwas schönes zu denken ..."

Sie schluchzte und ihre Augen waren nicht mehr so braun. Sie waren rot, vom Weinen. Diese Tränen gaben meinem Herzen einen Stich. Dieser Schmerz fühlte sich beinahe so an, wie der Schmerz, denn ich verspürt hatte, wie ich von dieser hohen Klippe im Traum gefallen war. Doch diesmal wachte ich leider nicht auf.

Ich ballte meine Fäuste sehr fest zusammen und auch mir kamen Tränen in die Augen. "Wir müssen etwas tun!" sagte ich plötzlich ganz fest entschlossen. Das wunderschöne Mädchen schaute mich ganz hoffnungsvoll an. Da verspürte ich wieder dieses wohlige Gefühl und mir wurde ganz warm ums Herz. Doch dann verschwand die Hoffnung wieder in ihrem Gesicht. "Aber was?" Sie schaute mich fragend an. Ich zuckte ahnungslos mit den Schultern und nahm einen Grashalm in den Mund. "Das muss ich mir erst einmal genau überlegen." Fügte ich dann ein bißchen nachdenklich hinzu.

Wir lagen auf der Blumenwiese, im Schatten der Weidenbäume. "Wie heißt du überhaupt?" fiel mir auf einmal ein. Zu meiner Verwunderung schien sie zu überlegen.

"Weißt du, einmal hat eine Mutter einem kleinem Mädchen ein Buch vorgelesen und dieses Mädchen hat mir einen Namen gegeben. In ihrer Phantasie. Und inzwischen ist dieses kleine Mädchen schon erwachsen geworden. Sie hat mich ganz vergessen und somit auch meinen Namen. Ich konnte es zuerst nicht fassen und bin deswegen zum ersten Mal in eure Welt gekommen, weil ich es nicht wahrhaben wollte, dass jemand seine Phantasien vergessen konnte. Ich habe dieses Mädchen, genau so wie dich, im Schlaf aufgeweckt. Zuerst ist sie nicht aufgewacht, weil sie schlafen wollte, anstatt mir, ihrer Phantasie zu zuhören und als sie dann aufgewacht ist, bekam sie solche Angst vor meiner Stimme, dass sie einen Mann angerufen hat, der ihr für den nächsten Tag einen Termin bei dem Psychologen ausgemacht hat.

Weil dieses Mädchen meinen Namen vergessen hat, kann auch ich mich nicht mehr an meinen eigenen Namen erinnern ... Du könntest es auch so nennen: Ich hab eigentlich gar keinen Namen!!!"

Das Mädchen brach in niederschmetternde Tränen aus. Ich hatte das Gefühl, ich müsste irgend etwas für dieses Mädchen tun, so nahm ich sie in meine Arm...Ich traute mich aber nicht, sie fest an mich zu drücken, denn sie schien mir so zerbrechlich.

Dann legten wir uns wieder ins Gras und überlegten uns, wie wir es anstellen könnten die Phantasiewelt zu retten. Ich dachte nach und schaute dabei die ganze Zeit auf den größten und mächtigsten Weidenbaum. Er stand so stolz da, als ob man ihn mit nichts stürzen könnte. Aber plötzlich war er weg. Verschwunden. "Der Weidenbaum ist weg." stotterte ich und zeigte in die Richtung, wo der Baum gestanden hatte. Das Mädchen nickte nur stumm. Nach einer langen Pause sagte sie jedoch: "Das habe ich dir schon gesagt, dass mit der Zeit immer mehr verschwindet ..."

"Ich hab's!" schrie ich und setzte mich prompt auf. Vor Schreck fuhr das Mädchen in die Höhe. "Was denn?" fragte sie mich.

Plötzlich fiel mir auf, dass ihr rot-orange-blonden Locken, nicht mehr wie die am Horizont untergehende Sonne glänzte, sondern sie pickten als dünne, abwaschwasserblonde, strähnige Haare an ihren schmalen Schultern.

Ich fing an zu erklären: "Am Besten wird sein, wenn du mich so schnell wie möglich wieder in meine Welt bringst und ich werde mich gleich an die Arbeit machen und einen Artikel für die Zeitung schreiben." "Und du glaubst das funktioniert? Du glaubst, dadurch werden die Menschen vielleicht wieder mehr Zeit finden, an mich und meine Welt zu denken?" Ihre Augen begannen zu leuchten ...

Sie nahm mich an der Hand und wir schwebten den Sternen entgegen. Je näher wir den Sternen kamen, um so müder wurde ich.

Als ich aufwachte, erinnerte ich mich gleich wieder an den Auftrag, den ich von der Phantasiewelt bekommen hatte. Ich setzte mich sofort an meinen Schreibtisch und brachte meine Gedanken und meine Phantasien auf Papier und fasste dies in möglichst verständliche Wörter.

Liebe Leser/innen!

Alle fragen sich doch die ganze Zeit, ob es Leben in einer anderen Welt gibt. Ich habe die Antwort dazu gefunden! Gestern in der Nacht bin ich schweißgebadet aus einem, schon alltäglich, gewordenen Alptraum aufgewacht. Eine wunderschöne Gestalt ist vor mir gestanden und hat mich zu einem Ausflug in IHRE Welt mitgenommen. Ich habe seit langem, wieder einmal Zeit gefunden mich in eine Phantasiewelt zu begeben. Diese traumhafte Gestalt hat mir klar gemacht, dass ihre Welt in Gefahr ist. Die Phantasiewelt verschwindet immer mehr und mehr, weil wir keine Zeit mehr haben, uns etwas ausdenken. Ich habe diesem Wesen versprochen zu helfen und das versuche ich Ihnen allen gerade mit zu teilen.

Ich bin Künstler und ich werde am Samstag, den 25.1.2000 am Hauptplatz eine Phantasiemesse veranstalten. Sie wird 2 Tage dauern und Sie wären eingeladen, mit zu feiern und Sie können dort in unseren Zelten auch übernachten. Ich würde mich freuen Sie begrüßen zu dürfen. Danke, dass Sie mir zugehört haben!

Auf der Messe, war ein riesiger, silbern-glinzender Raum, so glitzernd wie der See mit sehr vielen Blumen und Weide- und Obstbäume, die rote Blätter hatten.

In diesem Raum ging die Sonne gerade am Horizont unter und am Himmel waren weiche, weiße Wölkchen.

Am 2. Tag der Phantasiemesse, kam eine Frau zu mir. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter, ihr früher immer Bücher vorgelesen hat und in einer Geschichte ist ein Mädchen vorgekommen.

"Gestern, als ich in Ihrem Artikel, in der Zeitung, von dieser Messe gelesen habe, ist mir der Name dieses Mädchen wieder eingefallen. Ihr Name ist Una. Und als ich heute durch diesen einen Raum gegangen bin, habe ich dieses wunderschöne Mädchen wieder vor mir gesehen...Sie hat sich bei mir bedankt, dass ich mich an ihren Namen erinnert habe ..." erzählte mir die Frau strahlend.

Am selben Abend, bevor ich eingeschlafen bin, habe ich an Una gedacht und ich habe mich bei ihr bedankt, dass ich sie kennenlernen durfte.

 

Auf der Suche nach Zeit

Man muss still sein. Sonst wird man hinausgeworfen. Langsam (und leise) gehe ich lange Gänge hinauf und hinunter. Bücherregale, riesige Bücherregale formen sich zu einer Mauer die an der Decke endet. Massen von Büchern stapeln sich in den Regalen. Leise knirscht der Teppichboden unter meinen Schuhen und lässt meine Füße ein bißchen einsinken. Mein Blick streicht an den Büchern vorbei. Ich hebe den Kopf und schaue hoch hinauf. Zum Ende der Büchermauern.

Keine Menschenseele ist in diesen engen Gassen, umgeben von Büchern zu sehen. Doch, da biegt jemand um die Ecke. Eine Frau. Eine große, dünne Frau mit kurzen, lockigen Haaren und einer Perlenkette mit dicken weißen Perlen um den Hals. Ihre goldenen, ovalen Ohrringe glänzen. Von irgendwoher höre ich ihre hohe Stimme.

»Nach was suchst du denn?« höre ich diese Stimme sagen.

Meine Lippen bewegen sich und langsam höre ich mich »Zeit« sagen.

»Da bist du aber ganz falsch. Ich zeig dir, wo du ein paar Bücher über Zeit findest.« sagt die Frau freundlich und geht voraus.

Gleichmäßig schwanken ihre Arme beim Gehen. Ich gehe ihr nach. Nach einiger Zeit bleibt sie vor einer Büchermauer stehen und entnimmt ihr vier Bücher.

»Da, schau! ZEIT von Josef Parker, ZEIT FÜR MICH ZU STERBEN von Karsten Menuit, DIE TASCHENUHR von Paul Seller und STUNDEN von Laurel Ausborn.« erklärt mir die Frau. Sie drückt mir die vier Bücher in die Hand.

Ich schaue enttäuscht. Wie sie mein enttäuschtes Gesicht bemerkt meint sie »Oder liest du eher Kinderbücher. Da hätten wir zum Beispiel NIEMAND HAT ZEIT FÜR MICH von Jimmy Olson. Willst du lieber so etwas haben?«

Noch immer enttäuscht sage ich: »Ich suche nicht nach Bücher! Ich suche nach Zeit!«

Die Frau seufzt. »Na, da kann ich dir nicht weiterhelfen. Wir haben hier nur Bücher.«