Clemens Schreiner (10) 9. Preis

Wenn die Zeit nicht reicht ...

Was hätte ich mit meiner Zeit nicht noch alles machen wollen? Doch jetzt habe ich keine mehr. Krebs, sagen die Ärzte, drei Monate geben sie mir noch, höchstens.

Was ich noch alles machen wollte ... mit meiner Zeit. Einmal noch, ein einziges Mal noch in meine Heimat, nach Südtirol zurück. Ich werde mich nie an dieses vertrackte Altersheim gewöhnen. Überall rennen diese hundertjährigen Altzheimerpatienten herum, die vor der Toilette stehen und fragen, wo das Klo ist. Ich, als Achtundsiebzigjähriger, bin hier noch einer der Jüngsten. Mein einziger Freund war der Peter Paulsken, aber der ist auch schon tot. Leider. Seine Zeit war eben schneller vorbei als die meine.

Aber nun, ganz plötzlich, steht man da, und sieht den Tod mit seinem Stundenglas, wie er die drei Monate abwartet, für ihn spielt die Zeit keine Rolle. Doch für mich ist sie nun das höchste Gut der Erde. Erst wenn man von etwas nur noch sehr wenig hat, wird einem klar, wieviel es einem wert ist ...

Als ich noch jung und kräftig war, da wollte ich Bergsteiger werden. Doch dann musste ich einrücken, und als der lange Krieg endlich zu Ende war, kam ich in russische Gefangenschaft. Ich musste arbeiten bis zum Umfallen. Und als ich endlich freikam, da lernte ich meine Frau kennen. Da hieß es wieder arbeiten, arbeiten und wieder arbeiten, um die Familie ernähren zu können. Und als meine Frau starb, da steckten mich meine Kinder hier in dieses Altersheim. Immer dachte ich, später werde ich das alles machen, später ...

Aber jetzt gibt es kein Später mehr, und ich habe alle die Dinge, die ich immer tun wollte, noch immer nicht gemacht. Auf die höchsten Gipfel dieser Welt wollte ich steigen, mit den Kindern einfach nur im Schnee tollen, ihnen erzählen, warum so vieles nicht so war, wie ich es mir erträumt hatte. Immer hat die Zeit gefehlt. Jetzt möchte ich sie anhalten können, nie sollte es ein anderes Datum geben, als diesen unendlichen 28. September 1999. Der Arzt hat mit glatter und eisiger Stimme die Diagnose in den stillen Raum gesprochen. Ob er mir in die Augen geschaut hat? Ich weiß es nicht mehr.

Aber immerhin, ich bin ja froh, dass ich gute Chancen habe, Weihnachten noch zu erleben. Weil Weihnachten holen mich doch die Kinder immer ab, und das ist doch immer wieder schön. Und es ist auch gut, dass ich diesen Trubel zu Silvester vielleicht gar nicht mehr erleben muss, dieses Getue um das neue Millenium, was soll es? Keine neue Zeit bricht an, nein, Minuten werden sich wie bisher an Minuten reihen, Stunden an Stunden, nichts wird sich verändern.

So habe ich mir meine Zeit doch relativ gut eingeteilt, eingeteilt – was für ein Hohn? Und trotzdem, ein paar Jahre hätte ich schon noch gerne gelebt. Aber es hilft nichts, wir Menschen können den ewigen Kreislauf von Leben und Tod sowieso nicht beeinflussen. Also was bringt das Sinnieren? Jetzt muss ich aus dem, was mir noch bleibt, das Beste machen, denn den Lauf der Zeit kann man nicht anhalten ...

Außer auf Weihnachten freue ich mich noch auf das große Festessen hier im Altersheim. Jedes Jahr am 12. Oktober, dem Gründungstag des Heimes, gibt es ein Festmenü, mit Schnitzel und noch anderen Leckerbissen, die es sonst nie gibt. Aber das ist auch schon alles ...