Katharina Kern (13) 12. Preis

Wettlauf mit der Zeit

Im Raum war es dämmrig. Nur die Flammen des Kaminfeuers loderten hell. Wie tausende Zungen ragten sie empor. Das Brennholz knisterte und erzeugte eine heimelige Atmosphäre. Stumm starrte Marie ins Feuer. Ihr trauriger Blick wandte sich ihrem Großvater zu. Ihm ging es von Stunde zu Stunde schlechter. Nahezu apathisch lag er in seinem Bett. Mit jedem Atemzug schien er an Kraft zu verlieren.

Maries Augen wirkten müde und matt. Sie musste ihren Blick von ihrem Großvater abwenden. Sie konnte nicht zusehen, wie er litt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Gewissheit, nicht helfen zu können, brachte sie fast um den Verstand. In Tränen aufgelöst brach sie zusammen. Wie ein schwarzer Schleier legte sich die Hilflosigkeit über ihren Körper. Hüllte sie ein.

Ein Hustenanfall ihres Großvaters ließ sie wieder aufschrecken. Billy musste sich beeilen. Das Serum wurde dringenst benötigt, denn nicht nur Maries Großvater, sondern fast alle Bewohner des Dorfes waren dieser heimtückischen Krankheit erlegen. Billy, ein Junge, der im Norden Kanadas lebte, hatte sich bereit erklärt, das notwendige Serum von der Stadt, die viele Kilometer entfernt lag, zu besorgen. Ein schwieriges Unterfangen, denn durch einen Schneesturm zu fahren, war sehr gefährlich. Zusätzlich hatte ein Wettlauf mit der Zeit begonnen, bei dem Menschenleben auf dem Spiel standen. Der Grund für diese missliche Lage war der Schneesturm gewesen, der jegliche telefonische Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten hatte.

Marie atmete auf. Ihr Großvater hatte sich wieder beruhigt. Doch Marie spürte, die Zeit drängte. Billy musste sich beeilen.

Währenddessen, 25 km vom nordischen Dorf entfernt, jagte ein Huskischlitten dahin. Mit lauten Schreien und Peitschenhieben trieb eine vermummte Gestalt die Tiere an. Billys Herz raste, aber eigentlich fühlte er nichts. Sein Verstand war wie gelähmt und seine Gliedmaßen taub. Nur ein Gedanke jagte in seinem Kopf umher. Rechtzeitig das rettende Serum zu besorgen! Das Hecheln der Huskis und das Pfeifen des Windes drang dicht an seine Ohren. Jagte ihm Angst ein. Ließ Erinnerungen auftauchen: Hoffnungsvolle Blicke, die er vor seiner Abfahrt geerntet hatte. Würde er diesen Wettlauf mit der Zeit gewinnen? Er musste. Jede Sekunde konnte Menschenleben retten. Er brauchte es nur in die Stadt zu schaffen. Alles andere würde von einem Ärzteteam in einem Helikopter erledigt. Doch bis dorthin war es weit – sehr weit.

Langsam wurde es dämmrig, und die Huskis bewegten sich nur mehr träge voran. Billy beschloss, einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen. In einer Höhle gab er dann den Tieren zu fressen und legte sich selbst auf eine dünne Decke. Er fröstelte. Die Kälte kroch unaufhaltsam in seinem Körper hoch. Billy wusste, wenn er nun einschlief, dass das seinen sicheren Tod bedeuten würde. Halbwach lag er da und starrte zur Decke. Tränen liefen über sein Gesicht. Es stand so viel auf dem Spiel, und er lag da, er, der als einziger etwas tun hätte können. So viele hofften auf ihn, und er lag nur da. Er musste diese Sache jetzt durchziehen – egal, was es kostete! Billy schloss die Augen und hörte auf das heulen des Schneesturmes. Das Geräusch wirkte so beruhigend auf ihn ... Er kämpfte mit dem Schlaf, doch sein Wille war stärker.

Billy richtete sich auf. Er durfte jetzt keine Zeit verlieren. Er spannte die Huskis wieder vor den Schlitten und fuhr in der Nacht hinein. Der Schneesturm wütete immer heiftiger, und Billy hatte Mühe, sich am Schlitten zu halten. Von Sunde zu Stunde fiel der Schnee in größeren und dichteren Flocken vom Himmel. Nur noch ein paar Kilometer – dann hätte er es geschafft.

Doch Billys Augenlieder wurden immer schwerer, seine Konzentration ließ nach, und im nächsten Augenblick lag der Junge im Schnee. Kraftlos – mutlos – verzweifelt. Angsterfüllt starrte er in den fast schwarzen Himmel.

Diese Fahrt verlangte Billy all seine Kraft ab. Vor seinen Augen begann sich der Himmel zu drehen. Erinnerungen zogen vor seinen Augen vorbei. Schöne Dinge, die er im Laufe seines Lebens erlebt hatte. Sein vor Kälte und Anstrengung gezeichnetes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Und plötzlich wurde ihm klar, dass sein Ende noch nicht gekommen war, und er noch eine – wenn auch nur ganz kleine – Chance hatte, seinem Dorf rechtzeitig das nötige Serum zu schicken.

Aus diesen Erinnerungen schöpfte Billy wieder Kraft und gewann neuen Mut. Mut, dieser Höllenfahrt ein Ende zu bereiten und den Wettlauf gegen die Zeit wieder anzutreten. Mühsam kämpfte sich Billy mit seinem Huskischlitten Meter für Meter voran. Rings um ihn nur das brausen des Windes und Schnee, soweit das Auge reichte. Doch auf einmal entdeckte Billy einen schmalen leuchtenden Streifen am Horizont. »Die Stadt!« Er kreischte es förmlich, und seine Stimme überschlug sich.

Endlich hatte er die rettende Stadt erreicht. Die glitzernden Lichter der Häuser gaben Billy ein Gefühl von Wärme und Erleichterung. Ihm war, als fiele eine schwere Last von ihm ab. In Billys Augen spiegelten sich die Lichter der Straßenlaternen. Er lenkte seinen Schlitten auf eine breite Straße und überbrachte die Nachricht seines kranken Dorfes. Zu seiner Erleichterung erfuhr er, dass man schon Kontakt aufgenonunen hatte, und dass die schreckliche Krankheit noch keine Toten gefordert hatte. Billy hatte den Wettlauf gegen die Zeit gewonnen!

Der Junge blickte zum Himmel hinauf und wählte sich den schönsten Stern aus. Er glitzerte und funkelte wie ein Diamant. Stumm betrachtete Billy das strahlende Wunder und freute sich still und leise über seinen Sieg gegen den Wettlauf mit der Zeit.