Rudolf Griss (12) 8. Preis
Zehntausend Jahre in einer Sekunde
"Bis morgen!", rief ich meinem Freund noch zu, bevor
ich mich auf den
Weg nach Hause machte. Gemütlich schlenderte ich zur Bushaltestelle.
Doch
bald blickte ich wütend auf meine Uhr. "Der Bus müsste
doch längst da sein.
Ich werde wohl meine Mutter anrufen müssen, um ihr zu sagen,
dass ich etwas
später komme.", dachte ich mir. Ich überquerte
die Straße und öffnete die
Tür der Telefonzelle. Ich nahm, immer auf die Straße
blickend, den Hörer ab,
warf drei Schillinge in den Kasten und wählte. Doch ich hörte
nur ein
seltsames Rauschen. Alles verschwamm vor meinen Augen.
Gleich darauf fand ich mich in einem Wald wieder. Da hörte
ich ein
eigenartiges Knacksen. Noch ganz benommen ging ich in die Richtung,
aus der
das Geräusch kam. "Hallo? Ist hier jemand?", rief
ich in der Hoffnung,
irgendjemand könnte mir erklären, was geschehen war.
"Sei leise!", hörte ich
eine Stimme. "Warum schreist du denn so? Wenn sie uns hören,
sind wir
geliefert!" Jetzt erst bemerkte ich, dass ich eine Rüstung
trug und ein
Schwert in der Hand hielt. Es blieb mir keine Zeit mehr, dem Mann
neben mir
Fragen zu stellen, denn in diesem Moment hörte ich Rufe:
"Da sind sie!" Er
lief los. Ich verstand zwar nicht, was das sollte, doch ich tat
es ihm
gleich. Schon nach kurzer Zeit hatten ein paar Soldaten mich eingeholt,
da
ich unter der schweren Last meiner Rüstung nur sehr langsam
laufen konnte.
Der Mann, mit dem ich anfangs zusammen gewesen war, war schon
längst im Wald
verschwunden. Anscheinend war er wesentlich kräftiger als
ich. Die Soldaten
schritten mit Schwertern in den Händen auf mich zu. Ich machte
einige
Schritte zurück, doch schon spürte ich eine Schwertspitze
zwischen meinen
Rippen. Ich sackte zusammen und dachte schon, ich würde sterben.
Da
verschwamm zum zweiten Mal alles vor meinen Augen.
Ich lag auf einem Holzboden, als ich wieder erwachte. "Warum
liegst du
denn so dumm am Boden. Ich bezahle dich schließlich nicht
fürs Schlafen.",
sagte ein Mann. In meinen Händen spürte ich einen Putzlappen
und neben mir
stand ein Eimer mit Wasser. Schnell rappelte ich mich auf und
begann den
Boden zu putzen. Erst jetzt merkte ich, dass ich auf einem Schiff
war. "Ich
verstehe das alles nicht. Ich müsste doch schon tot sein.",
dachte ich. Ich
bewunderte den großen Mast des Schiffes. Ich erkannte sofort,
dass es die
phönizische Flagge gehisst hatte. Da kam ein Gewitter auf.
Es wurde immer
heftiger. Trotz des lauten Tobens des Windes vernahm ich eine
Stimme. "Eine
riesige Welle steuerbord!", schrie jemand. Schon kippte das
Schiff mit all
seinen Insassen um. Ich versuchte zum Ende des Schiffes zu tauchen,
um
wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen. Doch das Schiff
schien unendlich
lange. Nach knapp fünfzig Sekunden spürte ich, wie mir
die Luft ausging.
Mein vollgesogenes Gewand zog mich immer weiter nach unten. Ich
wurde
ohnmächtig.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf einer Wiese lag, bis
ich endlich
wieder erwachte. Um mich hatten sich ein paar Leute versammelt,
die mich
verwundert beäugten. Sie trugen seltsame Felle und hatten
keine Schuhe an.
"Da ich vorher im Mittelalter war, dann bei den Phöniziern,
müsste ich jetzt
im alten Ägypten sein", dachte ich mir. Doch hier war
ich eindeutig in der
Steinzeit. Nachdenklich saß ich am Boden. Tausende Fragen
quälten mich.
Würde ich je wieder in die Gegenwart zurückkehren? Doch
um eine Antwort zu
finden, blieb keine Zeit mehr. Ein riesiger haariger Elefant rannte
geradewegs auf mich zu. Mir blieb gerade noch genug Zeit zu realisieren,
dass es ein Mammut war. Es hob mich, als wäre ich eine Ameise,
mit seinem
Rüssel hoch und wirbelte mich in der Luft herum. Mir wurde
schwarz vor den
Augen.
Ich dachte schon, ich käme jetzt zu den Dinosauriern,
bevor ich merkte,
dass ich wieder in der Gegenwart war und mich in der verhängnisvollen
Telefonzelle befand. Erleichtert stand ich auf und öffnete
die Tür. Ich warf
einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass seit dem Beginn
meiner
Reise keine Zeit vergangen war. Müde überquerte ich
die Straße und setzte
mich auf die Bank neben der Haltestelle. Ich wollte nicht noch
einmal zu
Hause anrufen, da ich es nicht riskieren wollte, eine zweite Zeitreise
zu
machen. Ich versuchte erst einmal, das Vorgefallene zu verarbeiten.
Da kam
schon der Bus. Ich setzte mich hinein. "Das behalte ich lieber
für mich",
dachte ich mir. "es würde mir sowieso niemand glauben."