Susanne Gottlieb (12) 1. Preis

In letzter Minute

Ich glaub’s nicht! Unmöglich!! In vier Tagen haben wir Mathetest, und das Alien von Mathelehrer hat es uns erst heute gesagt!! Das heißt büffeln, büffeln, büffeln!! Denn wenn ich die Schularbeit nicht auf einen Einser schaffe, heißt es Nachprüfung. Und da gibt es bekannterweise nur eine Chance. Ungeduldig schaue ich auf die Uhr. Aber die zeigt klipp und klar 8:45 den 13.11. an. Mist!

Birgit bemerkt meine Nervosität und grinst schämisch zu mir hinüber. Birgit und ich haben diesen Konflikt schon seit der ersten Klasse. Nicht nur das: Birgit ist auch unser Mathegenie. Dafür bin ich aber besser in Geographie, wo sich Birgit immer so blamiert.

Endlich klingelt es zur Pause. Ich gehe sofort zu meiner Gruppe.

»Der spinnt ja!« beginne ich die Diskussion. »Vier Tage! Das schafft ja kein Mensch!« schließt Marie sich mir an. Marion und Michaela nicken bloß.

Wir vier werden die »Vier M’s« genannt: Ich, Marianne, meine beste Freundin Marion und Marie und Michaela. »Morgen um drei Uhr bei mir zum Lernen.« sagt Michaela. Wir nicken. Für Tests lernen wir immer gemeinsam. Die Pause zerschrillt unser Gespräch. Freudig bemerke ich, dass dies unsere letzte Schulstunde für heute ist. Vor mir liegt das Wochenende.

Wir haben Physik. Die Buben beginnen auf ihn einzureden, dass wir Mathetest haben und bis Dienstag alles können müssen. Doch unser Physiklehrer ist stahlhart. Und eh wir uns versehen, ist die halbe Tafel voll Aufgabe. Im inneren sage ich schon »Tschüss« zum friedlichen Wochenende, denn Montag in der ersten Stunde haben wir wieder Physik. Und da ich immer fünf Minuten vor Schulbeginn in die Schule komme, gibt es für mich kein Entrinnen zum Abschreiben.

Heute gehe ich sehr bedrückt nach Hause. Denn ich weiß, dass ich wieder einmal ganz allein lernen darf. Meine Mutter versteht nichts von Mathe, mein Vater hat nur Wissenschaft im Kopf und würde mir, wie damals, alles so erklären, wie es in einem Buch für fortgeschrittene Anfänger steht, und kein Nachbar hat Zeit. Für eine Woche würde es mir nichts ausmachen, aber keine vier Tage!!

Als ich die Haustür aufmache, stürmt mir gleich meine Mutter entgegen. Wie ich bemerke, hat Mutter sich einen neuen Haarschnitt zugelegt und stinkt entsetzlich nach Parfum. »Mein Goldengel!« ruft sie und gibt mir einen dicken Schmatzer.

Ich bin wütend. Diese Frau kann sich das einfach nicht abgewöhnen. »Mutti, du ...« möchte ich beginnen, aber Mutter unterbricht mich gleich mit einer ihrer schrecklichen Piepsstimmen: »Stell dir vor, wir fahren zu Tante Lucy und Onkel Fritz und kommen erst morgen zurück! Ist das nicht toll?«

Ich starre meine Mutter wie durch einen Traum an. Nein, nein, das kann sie mir nicht antun!! Nicht jetzt vor der Schularbeit!! Ich hasse Tante Lucy und Onkel Fritz! Dauernd reden sie, und niemand lassen sie ausreden. »Aber Mutti, ich kann ...«

»Ich weiß, du kannst dich nicht fassen vor Freude! Ich habe es auch erst heute erfahren.«

Ich setze mich nieder. So etwas kann auch nur mir passieren! Und meine Niete von Mutter lässt mich nicht einmal ausreden!! Stattdessen wühlt sie schon in meinen Zimmer herum, und als ich ins Zimmer trete, liegt da ein Haufen Sonntagskleider. Also wirklich!

»Mama!« schreie ich hysterisch, »Steck das Zeug weg!«

»Aber Marianne, mein Goldengel, die Kleider hat dir doch Tante Lucy genäht! Sie liebt es, dich darinnen zu sehen!« Mutter hebt eines hoch. »Schau, die pastellene Grün, die Weiß und diese rosa Wölkchen! Und dann noch diese Rüschen und gelben Schleifchen! Sowas kriegst du kein zweites Mal!«

Mir wird schlecht. »Lieber Gott, ich bete zwar nie, aber bitte hilf mir!« denke ich. Aber meine Mutter hat schon die Tasche geholt und stopft alles rein, was nicht niet- und nagelfest ist. Als sie weg ist, stopfte ich noch sicherheitshalber ein Paket Jeans und meine Mathesachen hinein. Da fällt mir ein, dass ich noch Michaela anrufen muss, da ich nicht kommen kann.

Ich rase zum Telefon. 29-81-69. Ich höre nur gleichmäßiges Tuten. Ich bin schon im Begriff aufzulegen, als ich am anderen Ende der Leitung ein Klicken höre, und Melanies (Michaelas jüngere Schwester) Stimme »Grüß Gott, wir stehen ihnen ohne Rückzahlung gerne zur Verfügung.« an mein Ohr dröhnt.

»Hi Mel ...« beginne ich, als es plötzlich am anderen Ende der Leitung durch das Haus dröhnt: »Michaeellaaa! Die Marianne!!« Treppengetrampel und eine schnaufende Michaela meldet sich: »Ja?«

»Tschuldigung, aber meine Mutter hat mich verdonnert, mit mir nach Bad Radkersburg zu fahren.«

»Du meinst, diese zwei Clowns, die dir damals den Haufen Barbiepuppen geschenkt haben, wobei der Hälfte der Kopf gefehlt hat?« Ich merke, dass Michaela sich das Lachen nur schwer verbeißen kann. Ich bejahe und lege auf.

Auf einmal steht meine Mutter vor mir. »Fahren wir!« ruft sie und beginnt gleich zu singen.

»Adieu Welt!« denke ich, als ich mich zum Schuhregal schleppe. In vier Tagen Schularbeit, ein verpatztes Treffen, übernachten bei zwei Barbaren, was noch?

Da Mutter keinen Führerschein hat, fahren wir mit dem Zug. Mitten im Raucherabteil, wo alles ganz vernebelt ist. Mutter steckt sich eine an und bietet mir wohl schon zum hundertsten Mal in meinem Leben eine an. Ich nicke stumm nein und öffne das Fenster. Luft! Ich brauche frische Luft!!

Obwohl die Fahrt nur eine dreiviertel Stunde dauert, ist es für mich eine Ewigkeit. Ich bin richtig dankbar, dass ich in Bad Radkersburg aussteigen darf, obwohl ich eine hohe Stimme rufen höre: »Sofie, Marianne!« und eine bummelige Gestalt auf uns zuläuft.

Mutter und Tante Lucy fallen sich sofort in die Arme und ich glotze sie – meiner Meinung nach – blöd an. Tante Lucy löst sich aus Mutters Umarmung und schaut mich an, wobei man ihre falschen Zähne deutlich sieht. »Das muss wohl unsere Marianne sein!« sagt sie feierlich, dass mir alles hochkommt. »Mei, bist du groß geworden! Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, da warst du ...«

Eine halbe Stunde redet Tante Lucy jetzt schon auf Mutter über mich damals ein. Mutter antwortet die ganze Zeit nur mit »Ah« und »Oh«.

Schließlich unterbreche ich sie ungeduldig: »Wollen wir jetzt etwa am Bahnhof unser Zelt aufschlagen, oder was?!«

»Ach ja richtig! Ich habe ganz vergessen, dass wir noch am Bahnhof sind!«

Ich verdrehe die Augen. So blöd ist meine Tante! Ich schultere meine Tasche, und wir gehen los. Ich freue mich auf Tante Lucys Auto. Denn am Bahnhof habe ich mir jetzt wirklich die Füße in den Bauch gestanden. Draußen angekommen, parkt aber kein Tante-Lucy-Opel. »Kinder, ich habe mir gedacht, nun ja, der Arzt hat mir Bewegung verschrieben, und da habe ich mir gedacht, wir gehen zu Fuß nach Hause!«

Die Frau spinnt! Einen Kilometer darf ich einen zehn Kilo schweren Koffer zu Tante Lucys Haus zerren! Warum müssen wir bloß ihren fetten Bauch büßen? Ich ziehe und zerre. Meine Mutter und ich keuchen um die Wette. Vor uns schreitet Tante Lucy und singt »Von den blauen Bergen kommen wir«. Typisch!

Nach zwei Stunden sind wir beim Haus, wofür wir sonst immer eine Stunde brauchten. Und ich muss doch noch Mathe lernen! Ich will schon ins Gästezimmer gehen, das mir immer zugeteilt wurde, als ich erschreckt zurückpralle. Aus dem Zimmer kommt ein Junge, etwa in meinen Alter. Er hat eine Brille, zu große Ohren, und die Schneidezähne stehen ihm vor. Kurz und gut: Er sieht aus wie ein Kaninchen. Dazu noch ein windschiefes Gesicht. Ich starre ihn an, und er starrt mich an. Ich finde ihn hässlich.

»Oh!« kommt Tante Lucys schrille Stimme dazwischen, »Habt ihr euch schon kennen gelernt? Marianne, das ist Steve, der Sohn einer Freundin von mir.«

Ich mustere ihn noch einmal. »Und was soll ich mit ihm anfangen?« frage ich.

»Spielen!«

»So, ich soll also mit diesem Kanickel über Bäche und Steine hüpfen und dabei wie Fünfjährige herumplärren?« fauche ich.

»Nicht nur das. Ihr werdet auch das Gästezimmer teilen!«

Das war’s! Wenn ich jetzt mit diesem Ekelpaket denn ganzen Tag spielen muss, komme ich nie zum Mathelernen! Dabei habe ich es doch so nötig! Ich schmeiße den Koffer durch die Tür. Steve ist weg. Als ich das Zimmer betrete, bekomme ich einen Schock. Wie es hier aussieht!! Auf der Lampe hängen zwei Bananenschalen, auf dem Fensterbrett liegt ein schimmliges Butterbrot, auf den Stühlen liegen Bücher und CD’s stapelweise, und auf dem Boden liegen Klamotten. Ich gehe auf mein Bett zu. Aber was hat er angestellt! Überall feuchte Saftflecken und Kekskrümel. Ich bin entsetzt. »Tante Lucyyyyyy!«

Tante Lucys Kopf erscheint in der Tür. »Ja, meine Große?« flötet sie.

Ich beschließe, mich nicht zu ärgern und deute auf das Bett. »Darauf kann ich nicht schlafen!«

»Oh nein!« ruft Tante Lucy, »Stevelein hat doch versprochen, bei seinen Mitternachtspartys nichts dreckig zu machen!«

»Mitternachtsparty(!)s(!)?« rufe ich überrascht.

»Ja, Steve macht jeden Abend eine!«

Mir wird schlecht. Das kann ja heiter werden!! Tante Lucy zieht das Bettzeug ab. »Das kriegen wir schon sauber!« meint sie.

Zu meinen Pech ist die Waschmaschine kaputt, und wir müssen alles fein säuberlich mit der Hand schrubben. Das werde ich diesem Steve nie verzeihen!! Heute komme ich nicht mehr zum Mathelernen.

Zum Abendessen gehen wir in das Wohnzimmer. Da sitzen wir: Tante Lucy, Onkel Fritz, Mama, das Karnickel von Steve und ich. Wie immer reden Onkel Fritz und Tante Lucy, und wir können nicht ein einziges Mal was sagen. Steve hält mir außerdem einen Vortrag über Wissenschaft, dem ich nur mit einem »Aha« folge.

Als ich ins Bett gehe, bin ich sehr geschafft. Aber nicht nur das! Steve schnarcht!! Ich stöhne. Irgendwie schaffte ich es doch noch einzuschlafen.

Plötzlich reißt mich ein Schrei aus dem Schlaf. Ich setze mich auf. Da steht doch tatsächlich Steve und tanzt!! Na ja, das sollte es jedenfalls sein. Doch es ist nur Gehopse. Ich schaue auf die Uhr. 00:00. Also Steves Mitternachtsparty. Ich gehe zum Recorder und schalte ihn aus.

»Hey, spinnst du?« ruft er.

»Nur das Hundertstel von dir«, sage ich. »Was denkst du dir überhaupt?«

Steve zieht einen Schmollmund: »Meine Mutti hat es mir erlaubt.«

Ach herrje!! »Wenn du noch einmal den Recorder einschaltest!!« drohe ich ihm. Dann gehe ich ins Bett.

Diese Nacht schlafe ich recht gut. Als ich am nächsten Morgen aufwache, muss ich gleich an die Schularbeit denken. Drei Tage noch!! Steve schläft noch und grunzt dabei wie ein Schwein. Ich schlüpfe in ein T-Shirt und ziehe meine Shorts an. Auf dem Boden neben seinem Bett liegen aufgeschlagene Magazine und Popcorn, nicht zu vergessen, Cola-Rinnsale bedecken den Boden. Ich fragte mich, ob ich es den ganzen Tag mit dem aushalten werde.

Ich begebe mich ins Wohnzimmer. Aus Erfahrung weiß ich, dass Mama und Tante Lucy um diese Zeit vor dem Fernseher hocken und auf ORF 1 Zeichentrickserien anschauen. Als sie mich (leider) sehen, schreien sie auf, umarmen mich und drücken mich auf den Stuhl, damit ich mein Frühstück esse. Haferschleim. Igitt!!! Im Fernsehen sah ich, wie irgendein Junge sein Frühstück zum Fenster hinauswarf, und eine Horde Hunde es auffraß. Wenn ich das auch könnte!!! Aber ich weiß: In der ganzen Umgebung befindet sich kein Hund!

Ihn doch loszuwerden ist ganz einfach. Mama kommt mit einem rosa-roten Kleid angerannt, schüttet den Haferschleim weg, und Minuten später finde ich mich in diesem Kleid wieder. »Herzchen, wir gehen in die Kirche!« ruft sie in einer Sopranstimme. Jetzt weiß ich, warum man gute Sänger in der Oper besucht. Auh! Dieser Stoff kratzt und pickst!! Und ich muss doch noch lernen!!!

»Mama, ich kann leider (ich meine ‚Gott sei Dank‘) nicht mit!! Ich muss ...«

»Ach was!« ruft meine Mutter. »Komm! Steve kommt auch mit!«

Das war’s dann wohl! Adieu du schönes Leben!! Mutter zerrt mich ins enge Auto. Steve schaut mich spöttisch an. Er muss auch kein Kleid tragen!!

Ich schaue auf die Uhr. 9:15. Um 10 Uhr würde die Messe aus sein. »Bis dahin Hals- und Beinbruch!« wünsche ich mir.

Die Messe ist langweilig. Der Pfarrer redete so leise, dass nur die ersten Reihen etwas verstehen, und die Ministranten gähnen die ganze Zeit, dass es richtig ansteckend ist. Der Uhrzeiger will nicht vorrücken. 9:15, 9:20, 9:25, 9:33 ... Ich nehme gerade mein Brot ein. Es ist eklig, weil der Pfarrer beim Sprechen spuckt.

Als die Messe – weiß Gott wie – endlich vorbei ist, sagt Tante Lucy zu meinen Schrecken: »Wisst ihr was, Kinder? Wir holen jetzt ganz schnell Onkel Fritz ab, und gehen dann irgendwo essen!« Nein!!! Das ist Absicht! Mein Mathe-Test!!! So ein Mist!!! Aber was bleibt mir anderes übrig? Zu Hause ziehe ich mich schnell um. Wer lässt sich schon in so einem Kleid blicken?

Die Autofahrt ist schrecklich. Onkel Fritz erzählt die ganze Zeit blöde Witze und lacht als einziger darüber. Ich muss die ganze Zeit an meine Schularbeit denken. Es wäre ein Wunder, wenn ich es schaffen würde!! Mir wird heiß. Aber dieses Auto ist ohne diesen Hebel zum Fenster Aufmachen ausgestattet. Mich beginnt es zu jucken.

»Kinder, eine halbe Stunde noch, und wir sind da!« ruft Tante Lucy ganz entzückt. Ich verdrehe die Augen. Warum hat Gott mir so eine Familie beschert???

Dreimal müssen wir tanken. Leider hat Onkel Fritz die Angewohnheit, beim Tanken die Autotür sperrangelweit offen zu lassen, dass mir grundsätzlich schlecht wird. Aber Tante Lucy scheint das nicht zu stören, weil sie bloß ihr Näschen pudert. Als wir endlich nach einer Ewigkeit ankommen, hole ich erst einmal tief Luft. Ich weiß: Das Schlimmste wird erst auf mich zukommen. Letztes Mal hat Tante Lucy für alle das Mittagsmenü bestellt, das, wie sich herausstellte, Kohl mit Currysauce war. (In der Toilette habe ich mich dann übergeben.) Außerdem ist Onkel Fritz damals am Tischtuch hängengeblieben, und alles ist hinunter gefallen. Außerdem machten Mama und Tante Lucy immer so blöde Witze und lachten immer so laut, dass alle herüber schauten.

Mama hat mich jetzt an der Hand genommen und zerrt mich hinein. Widerwillig gehe ich mit. Onkel Fritz führt uns zu einem der Tische der – zu meinem Schreck – ziemlich in der Mitte der Gaststube steht. Als der Kellner uns sieht, verzieht er das Gesicht. Ich weiß, warum. Letztes Mal hat Mutter aus Versehen ihm die Salatschüssel an den Kopf geworfen.

Er teilt uns die Speisekarten aus. Zucchini gegrillt, Kürbis, Roter Rübensalat ... lese ich. Mich schüttelt es.

Eine Stimme lässt mich aufzucken. »Wollen Sie bestellen?« fragt der Salatschüsselpinguin.

»Für mich Hendl mit Pommes, und für meine Tochter Sauerkraut mit Geselchtem.«

Ich starrte meine Mutter an. »Waaas??« entfährt es mir.

»Das ist gesund!« meint meine Mutter.

»Ja, ja!« sagt Tante Lucy. »Wie ich immer sage: Gesund essen will gelernt sein.«

»Noch irgendwas?« fragt der Kellner.

»Ach ja!« ruft Tante Lucy. »Also, dann für mich Spaghetti, für Fritz Fischstäbchen, und Stevelein Melanzaniauflauf.«

»Hey!« unterbreche ich die Bestellung, »Warum kriegt ihr die guten Sachen, und wir so was Ekliges!?«

»Weil wir schon alt sind und es keine Rolle mehr spielt, was wir essen!« brummt Onkel Fritz.

»Trinken?« fragt der Frackpinguin.

»Für die Erwachsenen Cola und die Kinder bitte Wasser.« meinte Mutter.

Ich traue meinen Ohren nicht. Ist das die Möglichkeit? Die wollen uns ja umbringen!! Ich schaue zu Kanickel-Steve. Den scheint das nicht zu stören, im Gegenteil, er putzt seine viel zu große Brille und summt ein Lied. Aber irgendwie habe ich es eh erwartet.

Der Kellner geht. Tante Lucy und Mama blödeln wie immer lautstark herum, dass alles herüber schaut. Der Uhrzeiger schiebt sich unerbittlich voran.

Das Essen kommt. Bei meiner Portion verdreht es mir den Magen. Tante Lucy, Mama und Onkel Fritz aber schaufeln in ihre Rachen, und Idioten-Steve scheint das Essen auch nicht besonders zu stören.

»Marianne, mein Goldengel, schmeckt es dir nicht?« fragt Tante Lucy.

Ich grinse ihr ein »Ach, weißt du!«-Grinsen entgegen.

»Ach, weißt du, Lucy, ich muss mal auf die Toilette. Kommst du mit?« Tante Lucy und Mama stehen auf.

Steve ist – wie, kann ich mir nicht erklären – schon fertig und irgendwo unterwegs. Onkel Fritz hat Freunde entdeckt und ist in einen anderen Raum gegangen. Das ist meine Chance!!! Schnell nehme ich meinen Teller und halte nach einem geeigneten »Mistkübel« Ausschau. Da entdecke ich eine Suppenterrine. Ich hebe sie ab und schnuppere. Die Suppe riecht köstlich. Es tut mir leid, sie zu verpesten, aber der Fraß muss beseitigt werden. Schnell schütte ich alles hinein. Jetzt stinkt die Suppe. Schnell mache ich sie zu, nehme meinen Teller und setze mich wieder hin.

Ich schaue auf Tante Lucys Cola, das als einziges noch nicht ausgetrunken ist. Schnell nehme ich einen Schluck, wobei ich höllisch aufpassen muss, dass ich nicht Tante Lucys Lippenstiftspuren in den Mund bekomme. Da kommen Mama und Tante Lucy wieder.

Wahrscheinlich bemerkten sie meinen Teller und mich nicht, denn sonst wäre ich schon längst umarmt worden, weil ich alles »aufgegessen« habe. Statt dessen höre ich: »Schlechte Toiletten ... Schande ... Beschwerde ...« Mein Blick fällt auf die Uhr und versetzt mich in Panik. 15:30!!! MATHEMATIK!!!

»Mama, fahren wir jetzt?«

»Aber Herzchen, es ist doch erst halb vier!«

»Erst??!! Ich muss doch noch ...«

»Ich sagte, wir bleiben noch!«

Wunderbar!! Dauernd versuche ich, meiner Mutter beizubringen, dass ich Schularbeit habe, aber sie lässt mich nie ausreden! Endlich, nach einer Stunde, fahren wir, nachdem uns Onkel Fritz total blamiert hatte, indem er beim Spielautomaten sein Glück versucht und dabei total geflucht hat, wenn er verlor.

Als wir ankommen, ist es Zeit für mich und Mama, die Koffer zu packen. Ich bin sehr glücklich. Endlich, endlich nach Hause, denke ich mir. In mir geht wieder die Sonne auf. Fröhlich springe ich umher und zeige Steve lange Nasen.

Nach langer Packzeit – finde ich jedenfalls – sind wir am Bahnhof. Tante Lucy und Mama heulen und heulen und wollen nicht aufhören. Ich schäme mich. Steve und Onkel Fritz stehen daneben und versuchen, die beiden zu trösten.

»Mama, der Zug kommt!« rufe ich, als das Gefährt um die Ecke biegt. Mama löst sich aus Tante Lucys Umarmung, nimmt ihren Koffer und steigt hinter mir in den Zug ein.

Schon wieder ein Raucherabteil! Mama lässt das kalt. Sie lässt den Koffer plumpsen, stürzt zum nächsten Fenster und reißt es auf, winkt, heult so laut, dass alle Anwesenden zu uns herüber schauen. Mir kommt meine Mutter reichlich kindisch vor. Als der Zug sich in Bewegung setzt, stößt sie einen lauten Schluchzer aus und wankt zum Sessel mir gegenüber. Mir ist die Sache so peinlich!

Wie bei der Herfahrt ist alles vernebelt, aber ich habe nur mehr eine Last auf meinen Schultern, nämlich meine Schularbeit. Mutter pafft eine Zigarette nach der anderen. Dabei ändert sie kaum ihre Blickrichtung. Ich nehme meinen Walkman, den ich gestern in ein Seitenfach gestopft habe, und höre Musik. Meine Uhr zeigt 18:00 Uhr. Da sacke ich in meinen Sitz ein. Heute würde ich es ganz sicher nicht mehr schaffen, zu lernen! Bleibt also nur mehr der morgige Nachmittag. Aber das ist natürlich viel zu kurz für einen Übungszettel, der A3-Format hat. Bleibt nur ..., nein, das kann ich nicht tun! Schwänzen?! Neeeeein!!!

Meine Mutter reißt mich aus meinen Träumen. »Wir sind da«, sagt sie mir. Ich springe aus dem Waggon. Im Hintergrund sehe ich Papa. »Papa!« rufe ich. Dieser kommt sofort herbeigeeilt.

»Wie war es?" fragt er mich.

»Kotz drauf«, erwidere ich.

Da kommt meine Mutter. »Herbert, hallo!« begrüßt sie Papa. »Warum wolltest du schon wieder nicht mit?«

»Du weißt doch, dass ich deine Schwester und ihren Gatten nicht ausstehen kann«, meint mein Vater. Es steht 1:0 für ihn.

Als wir im großen, geräumigen Renault nach Hause fahren, erzählt uns Papa die ganze Zeit von wissenschaftlichen Projekten, wobei ich fast einschlafe. Nur Mama folgt ihm mit einem andauernden Nicken.

An diesem Abend gehe ich schnell ins Bett. Ich bin richtig glücklich, wieder zu Hause zu sein.

Am nächsten Tag in der Schule kommt Marion gleich auf mich zu: »Und, wie war’s?« fragt sie mich.

»Wie immer«, antworte ich.

Marion frage nicht weiter und folgt mir zu meinem Platz.

»Marianne, hallo!« ruft Marie, die gerade mit Michaela in der Tür erscheint. »Hast du schon gelernt?«

Ich bringe nur ein kleinlautes »nein« hervor.

Marion starrt mich an. »Nein?! Ja, bist du noch zu retten?«

Ich schaue sie verlegen an. »Nun ja, ich, ich wollte ja, aber ...«

»Das muss sich ändern!« schneidet sie mir das Wort ab. »Nach der Schule kommst du zu mir!« befiehlt sie. Ich merke, jeder Widerspruch ist zwecklos.

»Hast du wenigstens die Physikaufgabe?« will Michaela wissen.

»Mist«, war alles, was ich herausbringe.

Plötzlich steht Birgit neben mir. »Oh, du armes Baby!« spottet sie.

Ich zeige ihr den gefürchteten Finger und wende mich wieder meinen Freundinnen zu, jedoch, bevor ich etwas sagen kann, läutet es.

Ich fühle mich den ganzen Tag über nicht wohl. Erst bei Marion geht es mir besser. Ich darf bei ihr Mittagessen, es gibt Pizza. Nach dem Essen holt Marion die Mathematiksachen heraus. »Verstehst du das?« fragt sie und zeigt auf eine Reihe von verschiedenen Beispielen.

Ich beuge mich über das Buch, und, ohne lang zu überlegen, sage ich: »Nein«.

»Das wird aber ganz schön schwierig, wenn du nicht einmal das verstehst!« erklärt mir Marion. Dann beginnt sie, auf mich einzureden. Ich höre zu und rechne, höre zu und rechne, und zur Abwechslung höre ich wieder zu und rechne. Zwischendurch machen wir eine dreiviertel Stunde Pause, gehen in den Garten und machen ein Picknick.

»Können wir eine Runde schlafen?« frage ich.

»Hättest du wohl gerne?« erwidert Marion. »Wir haben noch die Hälfte vor uns!«

Ich stöhne. Warum hat uns der liebe Gott die Mathematik beschert??? In Marions Zimmer ist es inzwischen dunkel geworden, so dass wir das Licht einschalten müssen. Was würde ich dafür geben, dass es jetzt noch hell wäre, und wir mehr Zeit zum Üben hätten!

Als es sieben Uhr ist, gehe ich mit einem schlechten Gefühl im Magen nach Hause. Zu Hause kommt mir wieder dieses Weibsbild von Mutter entgegen. »Ich gehe heute in die Oper«, ruft sie mir zu. »Ich habe Clara beauftragt, auf dich aufzupassen.«

Clara!!?? Die??!! Das heißt, die würde wieder zur »Zeitvertreibung« eine Horde Mädchen anschleppen, dass ich mich nicht konzentrieren kann, und wenn alle weg sind, kann ich wieder aufräumen, weil Clara sich »ausruhen« muss. Das alles will ich meiner Mutter sagen, aber die würde mir nie glauben!! Also nicke ich bloß, und verschwinde auf mein Zimmer, um schnell weiter zu lernen, bevor Clara kommt. Aber da habe ich eine Idee!! Ich weiß, Clara würde, wenn sie ankommt, sofort fragen: »Bist du da, Marianne?« Dann muss ich »Ja« antworten. Clara würde dann die Mädchen hereinbitten. Wenn dann alle gegangen sind, würde sie rufen: »Marianne, ich leg mich jetzt hin! Räum bitte auf!« Ich müsste nur mit »Okay« antworten. Clara würde sich ins Ehebett(!) legen und einschlafen, während ich putze. Zehn Minuten, bevor meine Mutter kommt, dampft Clara dann ab. Wenn dann meine Mutter da ist, würde sie ganz entzückt sein, wie ordentlich doch alles ist.

Aber ich weiß, was zu tun ist. Ich reiße alle Schränke auf und verknote die Bettlaken. Dann nehme ich den Kassettenrecorder und beginne, Matheformeln drauf zu murmeln. Fünf Minuten, nachdem Mutter gegangen ist, höre ich ein Klicken im Schloss. »Marianne, bist du da?« höre ich.

»Ja, Clara!« rufe ich. Dann schalte ich den Kassettenrecorder ein, damit Clara glaubt, ich würde lernen. Sie hat mir einmal versprochen, sie würde nie nach mir schauen, damit ich meine Ruhe hätte.

Ich befestige meine Bettlakenschnur am Bett und steige hinab. Unten angekommen, wickle ich die Mathesachen aus einem Bettlaken und renne zur Bushaltestelle. Dort fahre ich zum Stadtrand und gehe in ein Café. Ich brauche viel Ruhe.

»Kann ich dir etwas bringen?« fragt die Bedienung. »Ja, einen Apfelsaft gespritzt, bitte.« antworte ich. Dann schlage ich mein Buch auf und beginne zu rechnen. Zwischendurch trinke ich auch von meinen Apfelsaft.

Pünktlich um halb zehn verlasse ich das Café und fahre nach Hause. Dort klettere ich gleich in mein Zimmer und verstaue die Bettlakenschnur in meinen Schrank, die Mathesachen in der Schultasche und schalte den Recorder ab.

Da ertönt Claras Stimme. »Ich leg mich ...«

»Okay!!« schneide ich ihr das Wort ab. Und während Claras Schnarchton herüberdringt, hebe ich die ganzen Papierschlangen und Konfettis auf und werfe sie weg. Die Torte packe ich in Claras Tasche und alles andere in den Biomüll.

Diese Nacht habe ich ein schlechtes Gefühl. Ich darf nicht daran denken. Mein armes Gedächtnis!! Es war so schwach!!

Am nächsten Tag weckt mich Mutter. »Aufstehen!« ruft sie und »tanzt« von einem Fenster zum anderen, um die Vorhänge aufzuziehen.

»Ich bin krank.«

»Marianne, hast du einen Test oder irgendein anderes Problem?« fragt Mutter plötzlich sehr schroff.

Ich schaue sie erschrocken an. »Wieso?«

»Ich bin nicht dumm und kenne diese Krankheitsmasche.«

»Oh!«

»Bist du also krank?«

»Oh nein, nein!« rufe ich und beeile mich, aus dem Bett zu kommen.

»Was gibt es zum Frühstück?«

»Semmeln mit Erdbeer-Himbeer-Marmelade von Tante Kundigunde!«

Ich würge alles, was hoch kommt, hinunter. Tante Kundigunde ist zwar total super, aber sie sieht leider schon so schlecht, dass in ihren Marmeladen immer große, schleimige Fruchtstückchen übrigblieben.

Ich ziehe mich total schwarz an. Schwarz für einen Trauertag. In der Früh erbrechen, und am Vormittag würde ich bestimmt einen Fleck schreiben. Im Schulbus ziehe ich noch einmal mein Buch hervor und lese alles von Kapitel zwei bis sechs durch. Mein Hirn darf nichts löschen.

In der Schule kommt Marion gleich auf mich zu. »Und?« fragte sie mich.

»Na ja.« sage ich.

Marion seufzt.

Die erste Stunde beginnt. Wenn ich an die Schularbeit denke, wird mir siedend heiß. Ich schaue zu allen anderen. Aber die sehen anscheinend glücklich aus. Hatten auch bestimmt Zeit zum Lernen. Pause. In der zweiten Stunde würde dann Mathe sein. Ich schaue zu Marie. »Toilette?« frage ich. Sie nickt.

Dort kühle ich meine heiße Stirn. »Angst?« fragt Marie.

»Ja.« sage ich.

»Wird schon gehen.«

Mann, tut die locker! Die Klingel! Mein Todeszeichen. Langsam gehe ich hinter Marie in die Klasse. Auf der Tafel steht in Birgits Gekrakel: Jetzt haben wir Schularbeit. Marianne.

Haha!! Diese ... dieses ... ach, was weiß ich! Sie ist eben geistesgestört. Corinna schaut bei der Tür hinaus. »Er kommt!«

Okay, ruhig bleiben. Alles halb so schlimm!

»Guten Morgen!«

Mein Bauch krampft sich zusammen. Los, jetzt muss ich in Ohnmacht fallen ..., na wird’s bald? ... wie lange muss ich denn noch warten?

Auf einmal landet ein Heft, auf dem »Mathematikschularbeiten« drauf steht, auf meinem Platz. Es gibt, wie immer, Gruppe A und B.

»Bei der Gruppe B gibt es irgendwo bei einer Textaufgabe einen Zahlenfehler. Wenn also das Ergebnis nicht stimmen kann, kommt bitte zu mir«, eröffnet der Lehrer.

Ich bete »Gruppe A, Gruppe A, Gruppe A, bitte!«

»Wer möchte austeilen?« höre ich den Lehrer fragen, als meine Finger schon automatisch in die Höhe gehen.

»Lisa und Marianne.«

Ich gehe nach vorne und nehme den Stapel entgegen. Gruppe A – gut. Ich möchte schon zwei Blätter der Gruppe A auf meinem Platz legen, als mich der Lehrer bittet, auf der anderen Seite mit dem Austeilen zu beginnen. Natürlich bekomme ich nicht meine heiß ersehnte Gruppe A, sondern B – ich bin eben ein Pechvogel!

»So, ihr könnt beginnen!« lautet die Anweisung des Lehrers.

Ich drehe das Blatt um und beschrifte es. Nummer 1a: 30 : 15 + 1,5 + 8 : 30 = ? und ähnliche Rechnungen lächeln mich an. Ich atme tief durch, schlage mein Heft auf und beginne mit meinen Notizen. Die ersten drei Rechnungen gehen mir wie von der Hand. Aber bei der vierten stocke ich. Ich rätsle, dabei schaue ich kurz auf Marions Schularbeit. Die ist schon ein paar Nummern weiter, hilft mir aber nicht, den richtigen Rechenvorgang für diese Rechnung zu finden. Also schreibe ich die nächste Nummer an. Eine Textaufgabe! Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ich lese nochmals verzweifelt die Angabe. Wie bitte??? Ich denke. STOP! Ja, so muss es gehen. Fiebernd arbeite ich an dieser Rechnung. Na, ich hoffe, es stimmt. Nächstes Beispiel – eine Textaufgabe. Ha, ich glaube, er hat hier den Fehler gemacht. Es müsste 10 ml dort stehen, und nicht 10 m. Ich gehe zum Lehrer. Dieser zeigt mir lächelnd das verlorengegangene l ein bisschen weiter rechts. Mist !!! Mit gesenktem Haupt gehe ich zu meinen Platz. Es wird mir dabei hundsübel. Hilfe! Wie viele Liter sind 10 ml ? Ich sehe mich bereits bei einer Nachprüfung im Herbst. Ich sehe mich bereits in einer dieser niedrigen Klassen, und nicht zuletzt als Blamage meiner Familie.

Plötzlich reißt mich Marions Stimme aus meinen Träumen. »He, wenn du mit der Schularbeit fertig werden willst, schreib weiter!«

Erschrocken greife ich zum Stift und schreibe die Zahlen ab. Minus, Plus, Minus, Plus, Minus, Plus ... Plus?? Womit soll ich diese Zahl multiplizieren? Der DRUCKFEHLER! Ich springe auf, und der Stuhl fällt um. Alle schauen böse auf mich.

»Marianne, könntest du bitte ein wenig leiser aufstehen?« kommt die Order vom Lehrertisch. Ich nicke, stelle den Stuhl auf und gehe nach vorne. Es ist der Druckfehler!! Jetzt geht es mir schon besser.

»Noch 30 Minuten!« Oh je! Einige Schüler sind bereits fertig. Ich habe noch vier Nummern zu rechnen. »Wenn ich das überlebe, gehe ich am Sonntag in die Kirche!« Ich rechne die nächsten zwei Nummern – Gott sei Dank kann ich sie. Da fällt mein Blick plötzlich wieder auf Nummer 1a. Die letzten Rechnungen muss ich auch noch lösen.

»Noch 15 Minuten.« Ich sterbe gleich! Schnell schreibe ich die Nummer 5a an. Ohh – Kubik! Was hat Marion mir beigebracht? Komm schon, komm schon!! Keine Chance. Ich blättere schnell zu einer alten Schularbeit zurück – jawohl – hier ist die gewünschte Tabelle!

»Noch 10 Minuten!« Okay, Textaufgabe geschafft. Beispiel 6a – waaas? Kapiere ich nicht! Ich hatte doch so gute Chancen – aus und vorbei! Ich schaue zum Lehrer. Der schreibt einen neuen Test – für die achte Klasse, glaube ich, zumindest sieht es so aus. Gerade geht Michaela an der Tafel entlang. Ich gebe ein witziges Geräusch von mir, in der Hoffnung, dass Michaela zu mir sieht, und ich habe Glück, sie schaut zu mir. In Zeichensprache frage ich sie »Gruppe B?« Diese nickt. Ich zeige Lösung 1a, Nummer 4, 5 und 6. Michaela schaut unschlüssig zum Lehrer und vergewissert sich, ob dieser noch beschäftigt sei. Sie beginnt die Tafel vollzukritzeln. Ich schreibe ab. Michaela löscht die Tafel.

Der Lehrer schaut auf und sagt: »Noch zwei Minuten!« Michaela blättert wild in ihrem Heft, sie kann Beispiel 6a, dessen Lösung ich noch nicht habe, nicht finden.

»Eine Minute noch!« Michaela hat die Seite gefunden, und in Sekundenschnelle ist die Tafel voll. Fast unleserlich. Ich schreibe und schreibe. Es klingelt.

»So, meine Herrschaften, bitte abgeben!« Ich schreibe noch die letzten zwei Zahlen und gebe ab.

Eine Woche später:

»Er kommt!« Ich versuche, ruhig zu bleiben. »Er« betritt die Klasse. Er sieht ernst drein – zu ernst. Ich merke, wie ich vor Aufregung zittere.

»Meine Herrschaften, ich habe eine Mitteilung für euch. Es gibt nur Einser und ein Nicht Genügend.«

Ich hab den Fünfer! Da bin ich mir ganz sicher. Der Mathematiklehrer teilt die Schularbeiten aus. Marianne: ein Einser!!! Ich kann es nicht fassen, ich habe es geschafft! Lukas, was, ein Einser? Ist das die Möglichkeit? Ich glaub’, ich spinn! Der Mathematiklehrer ist bei Birgit angelangt: »Es tut mir leid, Birgit, du hast das einzige Nicht Genügend geschrieben.« Birgit schaut ihn an und dann mich. Ich grinse sie hämisch an, sie wiederum zeigt mir die Zunge.

In der Pause gehe ich zu Michaela. Ich umarme sie und bedanke mich bei ihr, dass sie mich in letzter Sekunde vor einer Nachprüfung gerettet hat. Als Dankeschön überreiche ich ihr zwei Kinokarten, und es macht mir gar nichts aus, dafür Geld ausgegeben zu haben, denn immerhin hat sie mich vor der Nachprüfung gerettet, und dafür ist mir nichts zu teuer!