Melanie Gerhold (12)

Maria

Sie stand vor dem Spiegel. Schwarzer Lidschatten, weiße Wimperntusche und schwarzer Lippenstift schmückten ihr Gesicht. Perfekt, fast perfekt war sie, zumindest auffallend.

Sie schlüpfte in ihre kniehohen Stiefel und nahm ihre schwarze Lacktasche.

»So«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, »Jetzt bist du Mary, und zwar für immer und ewig!«

Seit ihrem zehnten Lebensjahr führte sie dieses Doppelleben. Zuhause und in de Schule war sie die brave Maria.

Aber nach der Schule und in der Nacht war sie das, was sie sein wollte: ein Mädchen, das geliebt wurde. Das angesehen wurde. Das auffiel.

Dann stand sie immer mit einer Gruppe Jungs herum, denen die Skaterhose bis zu den Knien rutschte. Von denen wurde sie geliebt und angesehen, auch wenn sie im Drogenrausch waren.

Sie selber war nicht drogenabhängig. Sie hatte es probiert, doch sie war nicht süchtig.

Und jetzt, wo sie dieses Doppelleben 4 Jahre ausgehalten hatte, wollte sie es ganz. Sie wollte ganz und überall geliebt werden, so wie sie war. Und ohne sich verstellen zu müssen.

Ihre Eltern liebten sie nur, wenn sie brav war. Wäre sie so wie auf der Straße bei den Jungs gewesen, hätten die Eltern sie in ein Heim gesteckt.

So wollte sie weg. Nach Wien vielleicht, oder nach Deutschland.

Als sie dann aber wirklich am Bahnhof stand, um auf den Zug nach Wien zu warten, hatte sie eine andere Idee.

Sie zog ihr Taschenmesser aus der Lacktasche. Sie hörte, wie es schnappte, als sie es aufklappte. Dann hielt sie es an ihre Brust und stach zu.