Eva Maria Fleissner (13)

Der Fund

»Schon wieder ist sie beleidigt!«, dachte ich, als ich schmollend auf der Dachbodentreppe saß und angestrengt darüber nachdachte, wer wohl an diesem Streit schuld sei. Es war ein verregneter Sonntag, und die Familie überlegte wie immer, was heute auf dem Programm stand. Da kamen die unmöglichsten Vorschläge, von im Hallenbad schwimmen, bis Verwandte besuchen, aber von einem gemütlichen Nachmittag im Kino wollte wieder einmal niemand etwas wissen. Und wie es bei uns so üblich war, kam es deshalb zum Streit zwischen meiner Mutter und mir. Das war ja auch nicht anders zu erwarten, wenn die dominierenden Persönlichkeiten der Familie aufeinanderstoßen. Meine Mutter pflegt nämlich die Tradition, immer nur sich recht zu geben.

»Wenn ich schon einmal da bin«, murmelte ich halblaut vor mich hin, »dann bietet sich doch die Möglichkeit, ein bißchen herumzuschnüffeln.« Im Dachboden war ich schon öfters auf interessante Dinge gestoßen, aber seitdem ich die schöne Vase meiner Mutter zertrümmert hatte, hatte sie es mir verboten, den Dachboden zu ruinieren.

Plötzlich stieg mir der Geruch von faulen Eiern in die Nase, und ich beschloß, dem Gestank nachzugehen. Vielleicht würde ich ja eine der unangenehmen Überraschungen meiner Katze finden, die sich wahrscheinlich wegen des gestrigen Bades an mir rächen wollte. Ich heftete meinen Blick auf den Boden und hoffte inständig, dass meine Befürchtungen nicht wahr werden würden. Doch was war das? Plötzlich erblickte ich ein braunes Buch vor meinen Füßen. Die Neugierde packte mich, ich bückte mich und ergriff das Buch mit spitzen Fingern. Da weder ein Titel, noch der Name des Autors auf dem Buch stand, schlug ich es auf und bemerkte, dass es auf Latein geschrieben war. Als ob es nicht reichen würde, wenn ich mich in der Schule damit quälte, so verfolgte es mich auch noch in meiner Freizeit. In nomine patris et filii et spiritus ... Im Namen des Vaters, und des Sohnes, ... das konnte ich trotz meines miserablen Wortschatzes noch übersetzen. Scheinbar handelte es sich bei diesem Buch um eine Bibel. Doch nicht nur die Sprache verwunderte mich, sondern auch die Schrift sah etwas sonderbar aus. Die Anfangsbuchstaben jeder Seite waren besonders kunstvoll gestaltet und hoben sich durch Größe und Form von den anderen ab. Viele Schnörkeln und Verzierungen lenkten die Aufmerksamkeit des Betrachters auf diese Buchstaben. Im Allgemeinen war das Schriftbild sehr eckig ausgeprägt und wie ich es ja im Zeichenunterricht gelernt hatte, handelte es sich dabei um die sogenannte Mönchschrift, die besonders in der Renaissance gern verwendet worden war. Ich wollte das Buch schon wieder zuklappen, als ich auf der letzten Seite etwas Seltsames entdeckte. Johannes Gutenberg stand da in großen Lettern geschrieben. Aber ... das gibt es doch nicht. Halte ich denn wirklich eine Gutenbergbibel in der Hand? Es gibt doch weltweit nur 49 Exemplare davon. Das bedeutet, ich bin jetzt um 8 Mill. Mark reicher. Voller Begeisterung lief ich zu meiner Mutter, um ihr von meinem sensationellem Fund zu berichten. Den Streit von vorhin hatte ich schon längst wieder vergessen. Als meine Mutter die vermeintliche Gutenbergbibel erblickte, brach sie in schallendes Gelächter aus und erklärte mir, dass es sich bei diesem Buch nur um einen Scherzartikel handelte.