Kerstin Allram (11) 4. Preis

Zeit

Menschen empfinden die Zeit als eintönig, schwer, gehetzt oder leer.
Andere meinen, sie ist schön, leicht, ruhig oder abwechslungsreich. Solche Meinungen gibt es aber leider nur wenige.
Man würde vermuten, dass es die Zeit schon gab, als noch niemand von ihr wusste. Man könnte meinen, dass die Zeit alles erlebt hat, weil alles in ihr erlebt wurde.
Man könnte denken, die Zeit erlebte die Entstehung der Erde, der Menschheit und noch vieles mehr.
Man würde denken, dies alles geschah in ihr.
Man würde glauben. Man könnte meinen. Man könnte denken. Weiß man?

 

Wie es zur Zeit kam
oder
Der tolle Einfall von Mariechen,
der sich später als Reinfall entpuppte

Die Menschheit bestand schon ungefähr 3005000 Jahre und hatte die Steinzeit, die Bronzezeit, die Geburt Christi und alles andere, was es auf diesem Gebiet noch gibt, hinter sich gelassen. Doch es gab nicht so viele Menschen auf der Erde wie heute. Der Mensch sah ein, dass zu viele menschliche Wesen den Planeten Erde zerstören würden. Also ließ er die Geburtenrate fallen und konzentrierte die Gattung Mensch auf einen Ort: Gredwalski

Gredwalski war ungefähr so groß wie Österreich, hatte 5 Millionen Einwohner und bestand größtenteils aus Wald, Flüssen, Seen, einigen Bergen und Siedlungen. In Gredwalski lebten alle verschiedenen Menschen zusammen, wie Afrikaner, Chinesen, Indianer und noch viele mehr. Leider ist es nicht mehr nachweisbar, welche Sprache in Gredwalski gesprochen wurde.

Man würde ungefähr das Jahr 5000 schreiben. Doch obwohl diese Menschen uns technisch schon weitaus überlegen waren, kannten sie keine Zeit.

Eigentlich recht ungewöhnlich für eine Spezies, die technisch, wirtschaftlich und ja sogar im Denken anderen Wesen so weit voraus war. Doch es war nun mal so.

Ohne Zeit zu leben, war aber nicht sehr umständlich. Im Gegenteil! Die Menschen in Gredwalski kannten natürlich auch keinen Stress, weil sie ja nie unter Zeitdruck stehen konnten. Im Zusammenhang mit der Zeit kannten sie natürlich auch keine Woche, keinen Monat und kein Jahr. Sie lebten einfach nur so vor sich hin, erfanden neue nützliche Dinge und waren ohne Bedenken glücklich.

Nun, in Gredwalski gab es auch einen hohen Rat, der aus Kindern und Erwachsenen jedes Alters bestand. Dort beschlossen sie, wo Rüben angebaut werden sollen, oder wie man am besten Tannen züchtet. Wie ihr seht, waren die Gredwalskier sehr naturverbunden. Die Gredwalskier im hohen Rat hatten auch etwas ungewöhnliche »Künstlernamen«, mit denen sie aber nur im Ratsgebäude angesprochen wurden. Jeder durfte sich einen passenden Namen für sich aussuchen. Die meisten klangen wie Leid, Lust, Freude oder Mut. Andere Menschen aber benannten sich mit Wörtern, die es gar nicht gab, wie Kretzli, Gezadser, Husbod oder ... Zeit. Diesen Namen hatte ein Mädchen, das ungefähr zwölf Jahre alt war und in Wirklichkeit Mariechen hieß, gewählt.

Komischerweise gab es auch ein anderes Mädchen, das im hohen Rat »Uhr« genannt wurde. Eigentlich hieß das Mädchen Anna. Wie es der Zufall will, waren Zeit und Uhr die besten Freundinnen.

Der hohe Rat entschied aber nicht nur über Pflanzen, wie vorhin gesagt. Er hielt auch Krisensitzungen ab.

Diese handelten zwar auch meistens von Pflanzen, doch da gab es einen Tag, der viel veränderte, und der eine Krisensitzung ohne pflanzliches Thema herauf beschwor. Eigentlich war es keine Krisensitzung, da es keine Krise gab. Aber es wurde eine Sitzung abgehalten, die nicht geplant war.

Es brach gerade wieder ein schöner Tag an. Da es in Gredwalski auch eine große Schule gab, gab es auch Ferien. An diesem Tag konnten sich die Schüler freuen, da die Schule gerade Ferien beschlossen hatte. Die Schule (bzw. der Direktor und der Schülervorsitz) gab Ferien, wann sie wollte, bekannt. Da es keine Zeit gab, wurde auch das Ende der Ferien im letzten Moment entschieden.

Wieder wollte Mariechen nicht zum Frühstück kommen. »Mama ich will noch nicht aufstehen! Außerdem habe ich gar keinen Hmger«, protestierte das Mädchen.

»Aber du musst etwas essen! Sonst wird dir noch schlecht, und du musst tagelang im Bett liegen! Aber wie es scheint, würdest du es akzeptieren, wochenlang zu schlafen«, entgegnete die Mutter.

Ungefähr schon 15 Minuten kämpfte Mariechen so um etwas Schlaf. »Was ist denn jetzt los? Stürzt das Haus ein? Wieso macht ihr denn einen solchen Krach?«

»Siehst du jetzt hast du mit deiner Brüllerei auch noch deinen Vater aufgeweckt!« schrie Mariechens Mama, noch bevor sie ihrem Mann antwortete: »In der Früh ist es schon schwer mit dem Mariechen. Sie will und will nicht aufstehen. Dabei ...«

»Du hast auch herum geschrien! Hättest du mich weiter schlafen lassen, würde Papa jetzt auch noch schlafen! Außerdem hättest du herauf kommen können, und nicht von der Küche, durchs Vorhaus, über die Treppe in mein Zimmer brüllen müssen!« unterbrach Mariechen ihre Mutter.

»Werde nicht frech, junge Dame! Du hättest genauso gut herunter kommen können!« schrie die Mutter zurück.

»Was wolltest du sagen?« fragte Karl, Mariechens Vater, seine Frau.

Diese wurde jetzt wieder wütend: »Jetzt habe ich das auch noch vergessen! Lange halte ich es in diesem Haus nicht mehr aus ... Ah! Ihr könnt froh sein, dass ich mich erinnern kann, sonst hätte ich den ganzen Tag schlechte Laune!«

Karl versuchte, seine Frau Eva zu beruhigen: »Sag es uns jetzt halt ganz ruhig, bevor du es wieder vergisst, und atme tief ein und aus.«

»Eigentlich geht das dich etwas an, Mariechen: Anna hat auch schon angerufen und will sich mit dir beim Ratsgebäude treffen!« sagte Mariechens Mutter schon etwas ruhiger.

Das brachte Mariechen auf die Beine. Flink zog sie sich an, flog die Treppe nur so hinunter, indem sie immer eine Stufe übersprang, schnappte sich ein Honigbrot vom Tisch, schmatzte ihrem Vater- und ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, rief noch irgendetwas von »Entschuldigung« und »Komme bald wieder« und war schon bei der Tür hinaus.

Ihre Mutter sah ihr kopfschüttelnd, aber lächelnd durchs Fenster nach. Eigentlich vertrug sich Mariechen mit ihren Eltern ganz gut, nur in der Früh war Mariechen sozusagen die Pest für ihre Eltern, und ihre Eltern waren für sie die größten Nervensägen, die sie sich vorstellen konnte.

Schnell holte Mariechen ihren vollautomatischen Roller mit Düsenantrieb aus dem Keller, klappte die Räder ein, schaltete den Antrieb an, und schon schwebte sie ungefähr 20 cm über dem Boden Richtung Ratsgebäude.

So ein Roller war zu dieser Zeit gerade im Trend, und fast jedes Kind in Gredwalski besaß einen solchen. Er funktionierte mit Solarantrieb. Und da dieser Tag ein ausgesprochen sonniger Tag war, flitzte der Roller nur so dahin. Wenn keine Sonne schien, konnte man die Räder ausklappen und den Roller normal, händisch oder besser »füßisch« antreiben.

Schon war das Ratsgebäude in Sicht. Auf dem Platz davor stand die eiserne Statue von Michael Schnitzer, derjenige, der Gredwalski gründete und die Grundidee hatte. Herr Schnitzer war Mariechens Vorbild. Als sie immer näher und näher kam, bewunderte sie diese Statue, vergaß ganz auf sich und den Roller und ... Peng! Schon war sie in das Standbild von Herrn Schnitzer gefahren.

Anna, die dort schon auf das Mädchen wartete, kam sofort näher: »Hast du dich verletzt, Mariechen?«

»Nein. Es geht schon wieder. Mein Roller hat zwar einige Kratzer, aber wie es scheint, funktioniert er noch.

Ach! Was würde ich dafür geben, auch mein Abbild als solch eine Statue auf diesem Platz zu sehen.«

»Da brauchst du aber einen guten Einfall, Mariechen!« erinnerte Anna das Mädchen.

»Da fällt mir schon was ein! Und wenn ich eine Idee habe, dann wirst du es als Erste erfahren, weil ich dich, egal wie, am Gewinn, egal welchem, beteiligen werde!« schwärmte das Mädchen.

Anna wurde wieder ernst und sagte: »Hier! Ich wollte dir nur das Buch zurück geben, das ich vorige Woche von dir ausgeliehen habe. Dann muss ich auch schon wieder nach Hause. Wir könnten uns ja nach dem Hauptessen fteffen.« (Die Gredwalskier nannten das Mittagessen »Hauptessen«)

»Okay! Tschüss!« sagte Mariechen und flitzte mit ihrem Roller ab. Auch Anna machte sich mit ihren ebenfalls solarbetriebenen Rollschuhen auf den Nachhauseweg.

Während der Heimfahrt war Mariechen total in Gedanken versunken. Was brauchen die Gredwalskier unbedingt, was so großartig ist, um damit berühmt zu werden? Ein Gerät für den Haushalt? Eine neue Kommunikationsmöglichkeit? Ein Spielzeug für die kleineren Bewohner von Gredwalski? Eine neue Maschine zur Fortbewegung.? Oder gar einen neuen Badesee oder Freizeitpark? Mariechen dachte so angestrengt nach, dass sie fast einen anderen Rollerfahrer gerammt hätte.

Es dauerte nicht lange, bis sie zu Hause angekommen war. Den Rest des Vormittags verbrachte sie in ihrem Zimmer. Sie kramte nach ihrer »Datensammlung«. Wir würden dazu »Lexikon« sagen. Die Datensammlung war ein mittelgroßes, flaches Stück Plastik, das mit vielen Mikrochips vollgestopft war. Man konnte Bücher, welche allgemein zu einer Rarität geworden waren, in eine solche Datensammlung einfach einspeichern, indem man den Titel und den Autor eingab.

Irgendwo hatte Mariechen das Buch »Lexikon der Erfindungen, nach Bedeutung geordnet« eingegeben. Da! Endlich hatte sie es gefunden. Sofort schaltete sie das »Buch« ein. Die Erwartung Mariechens war groß. Denn sie hoffte, durch das Kennen vergangener Erfindungen könnte ihr selbst eine solche einfallen. Natürlich war die als erste genannte Erfindung bzw. Idee folgende: »Michael Schnitzers Idee war Gredwalski selbst. Er gründete Gredwalski und überzeugte die Menschen von der Tatsache, dass zu viele Menschen die Erde zerstören würden. Ohne Herrn Schnitzer würde die Erde, und somit die Menschheit, vielleicht schon längst zerstört sein.«

»Jaja Herrn Schnitzers Geburt war wohl sehr wichtig für unseren Planeten«, dachte Mariechen laut und erinnerte sich an die prachtvolle Statue auf dem Ratsplatz.

Eine Erfindung fand Mariechen auch bemerkenswert: »Viele Erfinder spezialisierten sich auf die Mathematik. Der Erfinder der Mathematik ist nicht ein Mensch, sondern es sind so viele Menschen, dass es sich gar nicht lohnt, alle genau aufzuzählen. Die Erfindung der Mathematik ist fast gleich wichtig wie Michael Schnitzers Gredwalski (siehe Seite 1).«

Mariechen saß noch eine Weile still da und hing ihren Gedanken nach.

Das tat sie ungefähr solange, bis sie ihre Mutter zum Mittagessen rief. Es gab Mariechens Lieblingsspeise: Broccoli und noch einiges andere Gemüse mit Käse überbacken. Dazu gab es ein Erdbeerjogburt.

»Mama? Darf ich mich nach dem Essen wieder mit Anna treffen?« fragte Mariechen, während sie den Auflauf mit Genuss verschlang.

Ihre Mutter antwortete: »Du weißt, dass Anna immer etwas später als wir isst. Warte nach dem Essen noch ein bisschen, bevor du los gehst. Aber natürlich darfst du.«

Das trieb Mariechen an, noch schneller zu essen als vorher. Als sie fertig war, konnte sie es kaum erwarten, endlich mit ihrem Roller zum Ratsplatz, der mittlerweile Mariechens und Annas Treffpunkt geworden war, zu flitzen.

Nun, leider aß aber Anna an diesem Tag extra früher, um sich mit Mariechen treffen zu können. So konnte Mariechen auch noch so lange warten, Anna tauchte nicht auf. Anna war ja schon früher da gewesen und wartete lange auf Mariechen, die währenddessen noch daheim war, um Anna nicht zuvorzukommen. So hatten sich Mariechen und Anna verpasst. Wieder fuhr Mariechen, nachdem ihr das Warten zu langweilig geworden war, gedankenverloren nach Hause.

Zuhause sagte Mariechen Mutter, dass Anna hier gewesen war und gefragt hatte, wo ihre Freundin bleiben würde. »Anscheinend habt ihr euch verpasst«, bemerkte Eva abschließend. Mariechen benutzte ihr Kontaktophon, um Anna zu sprechen.

Ein Kontaktophon ist ein Gerät, welches mit unserem Handy zu vergleichen ist. Es besitzt einen kleinen Bildschirm, auf dem man den Gesprächspartner sehen kann. Man kann auch kurze Nachrichten verschicken. Da die Kontaktophone über Funk verbunden sind, erspart man sich viele Leitungen.

Nachdem alles aufgeklärt war, vereinbarten die beiden Mädchen, dass sie sich am nächsten Tag gleich in der Früh treffen würden. Dann, kurz nach dem Auflegen, geschah es. Mariechen hatte eine Idee, die sich für eine Erfindung eignete: Die Freundinnen hatten sich nur deshalb verpasst, weil sie sich nicht genauer ausdrücken konnten als »nach dem Hauptessen«. Mariechen war klar, dass sie solche Probleme aus der Welt schaffen musste.

Sie musste die Nächte und die Tage genauer einteilen. Sofort machte sie sich an die Arbeit. Sie erinnerte sich an die Datensammlung, die sie vor dem Hauptessen durchgesehen hatte. Dort stand geschrieben, dass Mathematik sehr wichtig sei. Mit Mathematik wollte das Mädchen ihr Problem lösen. Bis zum Drittessen (die Gredwalskier nannten das Abendessen so) rechnete und tüftelte sie herum. Sogar während dem Essen dachte sie über ihre Idee nach. Auch nach der Nahrungsaufnahme arbeitete sie daran, ihren Einfall auszubauen. Bis tief in die Nacht hinein saß sie an ihrem Schreibtisch und ließ ihren Kopf rauchen. Mariechen verbiss sich so sehr in ihre Arbeit, dass sie auf ihr geliebtes Bett und aufs Schlafen verzichtete. Sie holte Datensammlungen hervor und entnahm verschiedene Informationen aus diesen. Sie rechnete und rechnete ...

Dies tat sie so lange, bis sie zu folgendem Schluss kam: Die Erde braucht ein Jahr, um sich einmal um die Sonne zu drehen. Ein Jahr besteht aus 365 Tagen. Ein Tag dauert so lange, wie die Erde dazu braucht, sich einmal um sich selbst zu drehen. Ein Tag enthält 24 Stunden, von denen es 12 Stunden hell (also Tag) und 12Stunden dunkel (also Nacht) ist. Eine Stunde dauert 60 Minuten lang, diese wiederum 60 Sekunden. Eine Sekunde kann man außerdem noch in Zehntelsekunden, Hundertstelsekunden, Tausendstelsekunden usw. teilen. So konnte man alles genauer bestimmen.

Mariechen wollte diese Sache zuerst »Mariechen« nennen, doch später bemerkte sie, dass ihr Künstlername »Zeit« besser klingt.

Schnell, aber leise, um ihre Eltern nicht zu wecken, rannte Mariechen in den Garten und holte etwas von der feinsten Erde, die sie finden konnte. Diese benutzte sie, um etwas zu bauen, mit dem man die Zeit messen kann. Mit viel Geschick und etwas Glück, die geeigneten Materialien zu finden, stellte sie etwas her, das zwar etwas verbeult, aber vollkommen funktionstüchtig war. Im oberen Teil befand sich Sand, der in einer gewissen Zeit in einen unteren Behälter rieselte. Nachdem sich der Sand von oben nach unten verflüchtigt hatte, musste man das Gerät umdrehen, und die ganze Prozedur ging von vorn ins Unendliche los.

Mariechen suchte fieberhaft nach einem Namen für das Ding, welches sie geschaffen hatte. Plötzlich erinnerte sie sich an das Gespräch mit Anna am Ratsplatz. »Und wenn ich eine Idee habe, wirst du es als erste erfahren, weil ich dich, egal wie, am Gewinn, egal welchem, beteiligen werde.« erinnerte sich Mariechen zurück.

Das mit dem »als erste erfahren« wollte Mariechen sofort erledigen, denn das Kind spürte, dass das, was es erfunden hatte, von großer Bedeutung war. Schnell nahm sie ihr Kontaktophon zur Hand und schrieb eine Kurznachricht an Anna: »Habe eine Idee für eine Erfindung gehabt, und habe diese verwirklicht. Kann es kaum erwarten, dich zu treffen. Mariechen.«

Nur, wie könnte sie Anna am Gewinn beteiligen? Da hatte sie einen Einfall: Sie würde ihr Messgerät der Zeit »Sandanna« nennen! »Nein. Das klingt doch nicht so grandios.« sagte Mariechen zu sich selber. Doch gleich nachdem sie die Enttäuschung überwunden hatte, kam ihr noch ein Einfall, den sie fast zu laut aussprach und somit fast ihre Eltern weckte: »Ich verwende einfach auch Annas Künstlernamen: Uhr. Also: Sanduhr.« Am liebsten hätte Mariechen einen Luftsprung gemacht, so glücklich war sie.

Am nächsten Morgen stand Mariechen ausnahmsweise einmal früher auf als sonst. Sie schrieb Anna, gleich nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatte, eine Kurznachricht auf ihrem Kontaktophon, welche beinhaltete, dass Mariechen sich unbedingt noch vor dem »Erstessen« (was im Gegensatz zum Drittessen Frühstück bedeutet) mit Anna treffen müsste. Anna willigte ein, und in null Komma nichts saßen die beiden vor der Statue des Herrn Schnitzer.

»Weißt du, ich habe da so ein Gefühl, das mir sagt, dass meine Erfindung etwas ganz Großes wird. Ich möchte gerne den hohen Rat benachrichtigen und eine Sitzung beantragen«, gestand Mariechen ihrer Freundin. Sie erzählte ihr auch alles über die Sanduhr und wie sie auf diese Idee gekommen war. Anna fühlte sich durch die Verwendung ihres Künstlernamens sehr geehrt und bedankte sich bei Mariechen. Dann fuhren sie nach Hause zum Erstessen.

Gleich an diesem Nachmittag betrat sie das Ratsgebäude und verlangte bei der netten Dame am Schalter, der für Wünsche, Beschwerden und Anliegen gedacht war, eine Sitzung des hohen Rates. Auch wirklich bekam sie einen Termin für den nächsten Tag nach dem Hauptessen.

Karl und Eva, Mariechens Eltern, staunten nicht schlecht, als sie von der Sitzung erfuhren. Doch als Mariechen ihnen ihr Konzept erklärte und sie von der Wichtigkeit der Zeit überzeugen wollte, sahen sich die Eltern nur an und sagten: »Vergiss diese Idee lieber schnell wieder. Dann kannst du uns nicht blamieren.«

»Das ist wieder typisch Eltern. Verstehen wieder einmal nichts«, dachte sich Mariechen.

Schließlich war der ersehnte Tag da, an dem die Ratssitzung stattfinden sollte. Mariechen war sehr nervös, obwohl Anna das Mädchen zu beruhigen versuchte. Endlich war es so weit. Der hohe Rat war versammelt, Mariechen trat vor diesen und begann ihre Rede zu halten, welche sie vorher häufig probiert hatte, und zeigte ihre Sanduhr. Die Taschenuhr, die sie später als die Sanduhr entwickelt hatte, wurde ebenfalls als Anschauungsobjekt verwendet.

Als Mariechen ihre Rede beendet hatte, trat der Vorsitzende des hohen Rates, ein schon etwas betagter Mann, zu ihr und sprach: »Du hast uns von der Wichtigkeit der Zeit überzeugt. Doch wie willst du die Zeit einführen? Es ist unmöglich, von heute auf morgen plötzlich das Jahr Null zu schreiben.«

»Das habe ich auch bedacht«, antwortete Mariechen sicher. »Da wir doch über die Dinge, die vor der Menschheit, und auch über die, die während der Menschheit geschahen, bestens Bescheid wissen, so könnte ich mir vorstellen, dass man bei Christi Geburt mit Null zu zählen beginnt. Vor dieser Geburt könnten wir die Zeit mit ‚im Jahre Dingsda vor Christus‘ bezeichnen. Wir müssten alles nachspielen, was geschehen ist. Jeder Mensch auf Erden würde eine eigene Rolle erhalten. Und so wird jeder Zeitpunkt benannt. Ein Mensch muss alles, was wir nachspielen, niederschreiben und seinen Nachfahren diesen Beruf überlassen. So wird dann die Geschichte entstehen.«

Nach diesem Tag war Mariechen glücklicher denn je. Der hohe Rat hatte zu ihrer Idee eingewilligt und hatte sogar auf ihren Wunsch hin den Bau einer Statue, die ihrem Abbild glich, beantragt.

Nun, die Gredwalskier ließen die Geburtenrate wieder etwas steigen und erfanden die Geschichte, indem sie alles, was geschehen war, nachspielten, sodass alles, was geschehen war, den zukünftigen Menschen (die es gab, wenn das Nachspielen beendet war) erhalten blieb.

Als das Standbild von Mariechen Sarah Klump (das war Mariechens voller Name) fertiggestellt war, konnte man am Klotz, der als Podest für die Statue gedacht war, eine kleine, goldene Tafel finden, auf der folgendes stand:

»Mariechen Sarah Klump erfand die Zeit. Sie ging mit ihrer Erfindung in die Geschichte ein, die wiederum auch sie mit der Zeit erfand. Sie hatte die Idee mit dem Nachspielen der Vergangenheit. Und vergesst nicht: Im Jahre 2010 sollt ihr die Geburtenrate fallen lassen, Gredwalski gründen und so die Erde vor der Selbstzerstörung retten.«

Mariechen starb mit 70 Jahren eines natürlichen Todes und wurde weiter verehrt.

Die Menschen begannen mit dem Nachspielen bei der Entstehung des ersten Lebens auf der Erde.

Bis die ersten Menschen die Erde bebauten und die Natur nützten, ging das alles gut. Aber weil die Menschen in der Steinzeit die Zeit eigentlich noch nicht kannten, mussten die ehemaligen Gredwalskier heimlich in den Genuss der Zeit kommen.

Je moderner die Menschen in der Geschichte wurden, desto mehr durften die Gredwalskier die Zeit ins Spiel bringen. Leider stieg somit auch der Stress.

Bald gab es heimliche »Anti-Zeit-Aktionen«, die jeden Kontakt mit Zeit und so auch mit Stress ablehnten. Solch Aktionen nahmen überhand und zerstörten eines Tages die Statue von Mariechen Sarah Klump und somit auch die Tafel, die an Gredwalski erinnerte.

Die Menschen spielten trotzdem das Geschehen weiter nach.

Generation um Generation geriet Mariechen, und mit ihr Gredwalski, in Vergessenheit. Auch das Nachspielen wurde immer mehr vernachlässigt, bis es aufgegeben wurde, weil sich niemand mehr daran erinnern konnte.

Die Menschheit geriet sozusagen »außer Kontrolle«.

Nur noch die Bezeichnungen »Zeit« und »Uhr« erinnern an die zwei Freundinnen. Es gibt die Zeit zwar noch, aber man weiß nicht, ob die Menschen im Jahre 2010 die Geburtenrate fallen lassen und Gredwalski gründen. Denn bis jetzt weist die Vergangenheit vor Gredwalski und unsere Vergangenheit deutliche Unterschiede auf.