DER STANDARD
Dienstag, 16. November 1999, Seite 13 – Bildung



Ich bin angekommen
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Text (Auszug) von Lydia Scherenzel, 3. Preis


(. . . ) Das Theater ist klein und rot. Rote Vorhänge, roter Teppich, rote Stühle. Das Licht ist spärlich, doch es blendet mich, denn wir sitzen ganz vorne. Weiß er, dass ich da bin? Er weiß es nicht, aber er wird sich freuen, sagen sie. Seine verlorene Tochter.

Überall Raunen und Wispern, das verhalten im Saal hängt, das Falten von Mänteln, Schuhgetrappel. Das Licht erlischt, und warm schlägt das Dunkel über mir zusammen. Seltsam, ich bin nicht aufgeregt, dabei müsste ich es doch sein.

Als der Vorhang fällt, kehrt die Fremdheit wieder. Ich gehöre nicht hierher, bin nur flüchtiger Gast, Zuschauer. Ich nehme das Stück kaum wahr, warte nur auf den Augenblick, in dem er erscheinen wird. Vater. Märchenprinz.

Manchmal kommen sie doch, Mama, alle hundert Jahre, mit einem Pferd, das weiß ist oder fuchsbraun. Irgendwann sind auch hundert Jahre verstrichen.

Er ist da

Stella (die Stiefmutter, Anm. d. Red.) berührt mich plötzlich am Arm, und unwillkürlich zucke ich zusammen. Er ist da. Ganz nah vor uns, nur wenige Meter entfernt, auf der Bühne. Du hast recht, Mutter: Er ist groß, und seine Haare sind schwarz, schwärzer als Tinte. Das Gesicht nicht mehr jung, aber sympathisch, die Furchen darin sind Lachfältchen, das sieht man. Sicher lacht er oft, nur jetzt nicht, denn jetzt spricht er auf die Frau vor ihm ein, die sich windet wie eine Schlange. Biegsam. Das also ist er: Mein Vater. Ein Fremder. Aber er spielt nur, Kind, er spielt nur. Alles ist Schauspiel.

Ich sehe ihm zu, seinen Bewegungen, die langsam und gleitend sind, höre seine Stimme, die angenehm tief in mein Ohr tropft. Die Zeit dehnt sich, scheint stehen zu bleiben, und immerzu denke ich: Vater. So also sieht er aus, so also spricht er, so bewegt er sich. Nicht wie ein Märchenprinz. Märchenprinzen gehören in Bücher, Erzählungen erwecken sie zum Leben, um sie dann von der Wirklichkeit wieder verdrängen zu lassen ins Fabelreich der Buchseiten. Nur in der Phantasie junger Mädchen existieren sie noch, bis sie auch dort eines Tages zu Grabe getragen werden. Seltsam, die Fremdheit verliert sich nicht, wandelt sich langsam, vermischt sich mit Neugier. Auch ein wenig Angst, aber weit weg, im Hintergrund.

Der Vorhang fällt, ich klatsche automatisch, und als die Schauspieler sich verbeugen, winkt Stella wild mit den Armen. Sieht er uns? Wir drängen uns durch die Menschen, die zum Ausgang strömen, bis zur Garderobe der Schauspieler. Stella zieht mich. Wie gut, dass ich ihre Hand fühle, ich könnte sonst nicht gehen, meine Beine sind widerspenstig. Immerzu stolpernd. Ich lasse mich ziehen.

Plötzlich ist ihre Hand fort, und sie wirft sich in seine Arme, die sich ausbreiten wie zwei große Flügel. Ich stehe nur und warte, möchte unsichtbar sein, oder weit fort. Über dem Meer. Schwebend. Meine Beine wollen nicht stehen. Es ist hell, viel zu hell, überall Spiegel, das Rauschen von Stimmen, das mich einhüllt. Ich gehöre nicht hierher. Stella löst sich von ihm, schiebt mich vor, unerwartet schnell.

Tua figlia. Deine Tochter. Seine Augen richten sich auf mich, weiten sich vor Erstaunen. Sie halten mich fest, sind dunkel und warm. Ich sehe seine Unsicherheit, sehe sein schwarzes Kostüm, seine Hände, die leicht zittern. Um uns plötzlich Stille. Die Zeit steht. Immer nur blickt er mich an, ungläubig, freudig und fragend zugleich. Meine Augen antworten schüchtern, doch ich schlage sie nicht nieder.

Schuhe klappern, Stimmen rufen, Gesichter schweben vorbei, als er sich vorbeugt, ein Lächeln formend, mit der Andeutung einer Umarmung, die in der Luft hängen bleibt, da er es nicht wagt, sie zu Ende zu führen. Ich stehe still, meine Augen immer noch schauend, unter meinen Füßen der Boden, fest und kühl. Er streckt langsam die Hand aus, vorsichtig: Sie ist warm und feucht. Groß. Seine Lippen durchbrechen die Stille zwischen uns, bewegen sich: Benvenuto. Willkommen.

(. . . )
Lydia Scherenzel, 16 Jahre, aus Schiltern (NÖ)



© DER STANDARD, 16. November 1999