DER STANDARD
Dienstag, 16. November 1999, Seite 12 – Bildung


Die Geschichte einer besonderen Beziehung
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Stefanie Panzenböck erschrieb sich mit "Steinregen" den zweiten Preis


Im Raum war es dämmrig. Das einzige Fenster war zur Hälfte mit einem Vorhang verdeckt. Regentropfen prasselten leise auf die Scheibe. Alles war in ein kühles Grau getaucht.

Er kniete in der Mitte des Raumes; vor ihm lag der Steinblock. Zärtlich strich er über ihn, fühlte die schmalen Rillen, die fast abweisenden Kanten und die Unförmigkeit, die ihn fast magisch anzog.

Er schmiegte seinen Körper an die kalte Oberfläche; feine Sandkörner rieselten herunter und kratzten dünne Risse in seine Haut. Am hinteren Teil des Steins spürte er eine Wölbung - die Wölbung ihres Hinterkopfes - die Arbeit des gestrigen Tages.

Vorsichtig stand er auf, so als ob er den Stein verletzen könnte, und ging ein paar Schritte zurück. Er konnte es schon gar nicht mehr erwarten, sein Werk eines Tages zu vollenden, ihre Figur Tag ein, Tag aus vor sich haben zu können.

Er wandte sich um. In einem Halbkreis standen hier alle Skulpturen, die er im Laufe seines Lebens gefertigt hatte. Sie alle stellten weibliche Körper dar. Da gab es kleine Verspielte, zierlich Sanfte, mütterlich Rundliche, starke Herrische - und alle hatten sie kein Gesicht. Ihr Kopf war zwar geformt, Augen und Mund teilweise angedeutet, doch sie hatten keinen Ausdruck, wirkten hohl.

Es war für ihn so eine Art Flucht aus dem Alltag, eine Alternative zu seiner nachmittäglichen Fabriksarbeit; eine Möglichkeit sich abzureagieren - und doch war er niemals zufrieden mit seinen Werken. Er wollte Leben in die Steine schlagen, sie lebendig werden lassen, sie zu seinen Lebensgefährten machen - doch er hatte immer das Gefühl zu versagen.

Wenn er seine Skulpturen betrachtete, schien es ihm, als würden sie sofort eine ablehnende Haltung einnehmen, ihn abweisen, ihn verachten. Deswegen hatte er auch auf ihre Gesichtszüge verzichtet. Es wäre sonst noch schmerzhafter für ihn gewesen.

Vielleicht hätte er in ihren Ausdrücken die demütigenden Ausdrücke der Menschen auf der Straße erkannt. Wie sie angewidert auf sein großes Brandmal auf der linken Gesichtshälfte starrten. Er wusste nicht, wie es passiert war, er wusste nur, dass er kein Geld hatte, es wegoperieren zu lassen.

Nur mit Mühe hatte er die Anstellung in der Fabrik bekommen, und bis jetzt kannte er dort auch noch niemanden. Oft sprach er den ganzen Tag kein Wort. Nur manchmal setzte er sich vor den steinernen Körpern hin, versuchte, ihnen etwas zu erzählen über seine Angst, die Miete nicht bezahlen zu können oder seinen Arbeitsplatz zu verlieren, doch er hatte immer das Gefühl, sie verlachten ihn innerlich.

Vor drei Tagen hatte er sie durch das Fenster seiner Werkstatt zum ersten Mal beobachtet. Seitdem kam sie jeden Tag in der Früh um halb sieben zur Bushaltestelle vor dem Haus, in dem er die zwei Zimmer gemietet hatte. Bis jetzt hatte er sie nur von hinten gesehen.

Das Wartehäuschen

Sie lehnte immer an dem Wartehäuschen. Die eine Hand hatte sie auf die hintere Wand gelegt, so als ob sie jemanden beschützen wollte; die andere hielt eine Tasche. Jedesmal, wenn der Bus kam, glitt ihr Arm an dem Wartehäuschen langsam herunter - für ihn war es wie ein Streicheln oder eine Abschiedsgeste - und dann stieg sie in den Bus.

Und jedesmal hatte er das Gefühl, sie würde ihn umarmen, ihn streicheln. Er wusste, dass das nie sein würde, aber wenn sie als Mensch ihn nicht beschützte, dann vielleicht als Stein. Ja, er wollte sie in Stein schlagen, nicht nur sie, sondern ihre ganze beschützende Haltung, ihren ausgestreckten Arm. Darunter würde er sich dann verkriechen können, würde ihr von einer neuen Idee erzählen, und sie würde ihm zuhören. Er lächelte.

Plötzlich erinnerte er sich, dass es bald halb sieben sein würde. Er sah auf die Uhr. Zehn Minuten noch. Der Regen war stärker geworden. Er richtete sich sein Werkzeug und wartete.

Es war wie jeden Morgen. Sie kam zur Haltestelle geschlendert und lehnte sich ans Wartehäuschen. Eifrig begann er mit der Arbeit. Vorsichtig meißelte er ihren Hals; seine Bewegungen waren fast zärtlich, seine Augen hatten einen liebevollen Glanz. Er merkte nicht, wie die Zeit verging und der Bus eigentlich schon längst da sein sollte. Er dachte gerade darüber nach, wie er die Schultern formen sollte, als sie sich plötzlich ruckartig umdrehte und auf das Haus zukam. Ihre langen roten Haare klebten vor Nässe an ihrem Kopf. Die Wimperntusche war verronnen und bildete einen schmalen schwarzen Rand unter ihren Augen. Starr beobachtete er, wie sie immer näher kam. Er spürte, wie seine Finger leicht zu zittern begannen, mit der Zeit seine Arme zuckten, bis sein ganzer Körper vor Aufregung bebte.

Dann läutete es. Ihm fiel ein, dass seine Vermieterin nicht zu Hause war.

Er sprang auf, rannte zur Haustür - plötzlich hielt er inne. Er klammerte sich an der Türschnalle fest; er würde jetzt ihr Gesicht sehen; jetzt musste er zum ersten Mal seit langem jemandem voll in die Augen schauen. Er musste - aber was wäre, wenn sie die gleichen Augen hatte wie alle anderen auch? Diese abschätzenden, demütigenden Augen.

Er würde sie nicht ansehen. Entschlossen drückte er die Schnalle herunter, riss die Tür auf - seine Augen starr auf den Boden gerichtet. "Sie wünschen?"

"Äh, guten Tag. Entschuldigen Sie bitte, aber könnte ich kurz telefonieren? Der Bus, er . . . ."

"Natürlich, kommen Sie herein!"

Er wollte mit fester Stimme sprechen. Doch es gelang ihm nicht. Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde vor Aufregung; seine schweißnassen Handflächen musste er an seiner Hose abwischen. Und er blickte immer noch zu Boden.

Er merkte, wie die Frau zögerte, er ging einen Schritt zur Seite und deutete auf das Telefon im Flur. Sie trat ein und wählte eine Nummer, sprach mit irgendjemandem, der sie nun abholen sollte.

Inzwischen hatte er die offen stehende Tür zu seinem Arbeitszimmer gesehen.

Aufprall

Er tastete sich bei der Frau vorbei, wohlbedacht, sie nicht anzusehen, machte die Tür zu, drehte sich um, um wieder zurückzugehen, als er mit ihr zusammenprallte! Mit einem lauten Aufschrei sprang er zurück, riss den Kopf hoch, um sich zu entschuldigen, und sah ihr plötzlich ins Gesicht.

Doch da war nichts - er sah keine Augen, die schwarzen Ringe der Wimperntusche waren verschwunden, auch die Nase - er blickte starr auf eine hautfarbene Fläche, die sich in keiner Weise rührte.

Augen und Mund waren zwar angedeutet, doch sie hatten keinen Ausdruck. Sekundenlang starrte er sie an, ging einen Schritt zurück. Er hatte Angst.

Mit einem Ruck drehte er sich um und rannte in seine Werkstatt und schlug die Tür hinter sich zu. Verzweifelt sank er auf den Boden.

Sie war gesichtslos, wie seine Statuen auch. Wahrscheinlich verachtete sie ihn genau so. Er griff nach dem Meißel, der neben ihm lag, holte aus, und warf nach der halbfertigen Skulptur in der Mitte des Raumes. Er verfehlte, sprang auf, schlug mit dem Hammer wie wahnsinnig auf den Stein. Kleine Brocken fielen jetzt herunter, er schlug so lange, bis die frühere Form nicht mehr zu erkennen war. Er warf den Hammer wieder zur Seite - leise vor sich hin murmelnd wankte er durch den Raum. Irgendwann sank er erschöpft zu Boden.

Im Flur vor der Tür hatte die Frau die Zeit dazu genützt, ihre verronnene Schminke zu erneuern. Sorgfältig fuhr sie die Lippen nach und tuschte ihre Wimpern.

Sie warf noch einen verwundenen Blick auf die Tür, hinter der er verschwunden war. Dann nahm sie ihre Handtasche und verließ das Haus.

Stefanie Panzenböck,
15 Jahre, aus Judendorf-
Straßengel (Steiermark)



© DER STANDARD, 16. November 1999