DER STANDARD
Dienstag, 16. November 1999, Seite 12 – Bildung


Reine Mädchensache: Die Preisträger des Jugendliteraturwettbewerbs 1999 unter dem Motto "(Keine) Angst?"

Ein schwarzer Himmel, eine alte Frau, meine Angst und ich

Unter dem Motto "(Keine) Angst?" veranstaltete die Jugend-Literatur-Werkstatt Graz gemeinsam mit dem Standard und der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus 1999 den zweiten Literaturwettbewerb für 14- bis 19-Jährige. Die preisgekrönten Arbeiten werden hier auszugsweise oder ganz wiedergegeben. Im Folgenden der gekürzte Text "Eine rätselhafte Begegnung" von Christine Weber, der den ersten Preis erhielt.

Es war ein ganz normaler Tag. Die Sonne schien wärmend vom Himmel. Vielleicht sogar ein wenig zu warm für einen Wintertag. Ich rieb mir die Nase und wandte den Blick vom Himmel. Der Gehsteig war vollbesetzt von Unterstufenschülern, die laut plaudernd auf den Bus warteten. Weiter abseits standen ein paar aus meiner Klasse und unterhielten sich. Ich hatte keine Lust rüberzugehen, obwohl mir ein paar der Jungs zuwinkten. Vielleicht redeten sie über die noch ausstehende Klassenarbeit, wahrscheinlich aber jedoch über ein anderes Thema.

Das war mir vollkommen egal. Ich drehte mich um und ließ meine Blicke über den Bürgersteig schweifen. Im verfallenen Bushäuschen hockte meine beste Freundin Steffi.

Sie starrte seltsam stumpfsinnig vor sich hin. Das erschien mir sonderbar. Normalerweise traf man sie nie irgendwo an, ohne dass nicht mindestens drei Jungen bei ihr standen. Heute war das mal nicht der Fall, denn das Häuschen war leer. Ich schlenderte zu ihr.

Meine Stirn fühlte sich heiß und verschwitzt an, außerdem hatte ich Kopfweh. Schon in der Früh war ich damit aufgewacht. Das letzte was mir jetzt noch fehlte war irgendeine doofe Krankheit, wie sie so viele derzeit hatten. Unter normalen Umständen hätte mich das nicht geärgert und wahrscheinlich sogar die gegenteilige Wirkung gehabt, aber jetzt stand einfach zu viel auf dem Spiel. Sollte ich diese Schularbeit versäumen, dann good bye Genügend!

"Hi, Steff! Wie geht's so?" Meine Freundin nickte nur unmerklich mit dem Kopf. Ich setzte mich neben sie. "Ich fühl mich so komisch. Wie, wenn heute irgendwas passieren würde. Etwas Großes, verstehst du?" Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte wohl schon wieder eine ihrer Philosophiephasen. Wieder strich ich mir über die Stirn.

Ich sah nach oben. Der Himmel hatte sich verändert. Schlagartig waren schwarze Wolken aufgezogen. Wie gab es das? So was konnte doch nicht möglich sein! Eben hatte es doch noch strahlenden Sonnenschein gegeben! Das Gewitter war buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht.

Mit einem Mal schauten alle zum Himmel. Es war still geworden. Selbst die Erstklassler hielten den Mund. Graue Schatten jagten über die Stadt. Ein einzelner Regentropfen fiel auf das Bushäuschen, kam durch einen kleinen Spalt und tropfte herab auf die Bank.

Loch in der Bank

Dort wo er gelandet war stieg ein leichter Rauchfaden hoch. Ich erschrak, als ich sah was die Ursache dafür war. Der Tropfen hatte ein millimetergroßes Loch in der Bank zurückgelassen. Wie bei dem missglückten Chemieversuch im vorigen Jahr, wo einer die Säure auf die Bank geschüttet hatte. Damals war bloß das Loch größer gewesen. Ich rückte ein Stück weit ab und starrte mit Riesenaugen auf das Loch. Vielleicht war es ja schon früher in der Bank gewesen und ich hatte mich einfach nur getäuscht und mir eingebildet, Rauch gesehen zu haben. Das wäre eine logische Erklärung gewesen, aber ich fühlte, dass sie nicht stimmte.

Schaudernd zog ich meine Jacke enger um meinen frierenden Körper. Mit einem Schlag schien der Winter zurückgekommen zu sein. Steffi hingegen schien das alles nicht wahrzunehmen. "Ich komme gleich wieder. Will nur mal kurz zu Steve."

Ich sah auf die Straße. Kein einziges Auto fuhr vorbei, obwohl es eine der meistbefahrenen Straßen hier in der Gegend war. Ich sah nur eine vollkommene Dunkelheit, durch die manchmal eine weiße Bodenmarkierung hindurch glänzte.

Ich drehte mich zur Seite. Beinahe hätte ich aufgeschrien. Neben mir saß eine alte Frau! Ich hätte schwören können, dass sie vor einer Sekunde noch nicht dagesessen hatte! Panikartig rückte ich noch weiter weg, saß aber nun fast schon an der Kante der Bank.

Ich beobachtete die Frau. Sie war alt, sehr alt, das sah man ihr an. Aber dennoch wirkte sie irgendwie jung. Seelisch jung.

Die Frau schien meine Blicke zu bemerkten. Sie wandte sich zu mir und sah mich an. Ihre stechenden Augen musterten mich. Es war mir unangenehm und mit einem Mal hatte ich Angst. Panische Angst. Eine Angst, die so groß war, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ich konnte nichts anderes tun, als dazusitzen und die Frau anzustarren. Verzweifelt versuchte ich den Blick von ihr zu wenden, aber ich war wie gelähmt.

Die Schüler um mich starrten noch immer auf den schwarzen Himmel, rührten sich nicht, sprachen nicht, die Zeit stand still. Es fuhren keine Autos, es fiel auch kein Regen. Da waren nur der Himmel und die Frau. Und ich. Und meine Angst.

"Du fürchtest dich, nicht wahr?" Erschrocken fuhr ich hoch. Der Bann war gebrochen und ich konnte mich wieder bewegen. "Du hast Angst. Alle haben es", meinte die Frau, wie wenn es die natürlichste Sache der Welt wäre. "Doch sie wollen es nicht zeigen. Aber sie wissen, dass etwas geschehen wird."

Ich blickte weg. Dasselbe hatte Steffi gesagt. Wo war sie überhaupt? Sie stand bei den anderen, bei Steve und starrte in den Himmel. Was war mit ihnen los?

"Es ist ein Sturm. Er wird viel Böses anrichten, und deshalb bin ich da. Ich muss euch warnen."

"Ich verstehe nicht, was Sie meinen? Was für ein Sturm? Hier bei uns?" "Ja. Aber ich kann und darf dir nicht mehr verraten. Horche in dich hinein. Wenn du es kannst, so wirst du erkennen, was ich meine." Ich tat als überlege ich angestrengt. Bei Verrückten tat man am Besten immer so, als ob man alles glauben würde. "Nein", sagte ich. "Ich fühle nichts."

"Du glaubst mir nicht, ich fühle es!" meinte die Alte traurig. "Ihr seid stumpfsinnig geworden und habt eure Instinkte schon beinahe verloren. Das ist es, was euch den Untergang bringen wird. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät." "Wir brauchen keine Instinkte. Wir sind eine moderne Welt mit Computern, die alles noch besser steuern als unsere Instinkte. Wenn eine Gefahr droht, so erkennen wir sie."

Menschenwerk

"Nein! Eure Werke versagen! Alles was der Mensch erschaffen hat, ist zum Versagen verurteilt. Eure Maschinen können euch in diesem Fall nicht helfen. Ihr werdet sterben, wenn ihr ihn nicht erkennt."

Die Angst in mir wuchs. "Wen?" fragte ich langsam.

"Versuche es und du wirst es erkennen. Ihr spürt die Furcht. Sie ist etwas wie eine Vorahnung. Ihr alle hier fühlt es, aber keiner spricht es aus. Das ist eure moderne Welt! Selbst wenn ihr den Grund für euren Untergang kennen würdet, so würdet ihr ihn nicht preisgeben, um eine Panik zu verhindern. Ihr würdet schweigend zusehen, wie alle Menschen draußen sterben, und nur darauf bedacht sein, euch selber in Sicherheit zu bringen!"

Ich nickte unmerklich. Die Frau hatte nur zu recht. "Ihr habt noch viel Zeit. Wenn ihr etwas dagegen unternehmt, so werdet ihr fortbestehen. Sieh in den Himmel."

Ich schaute hoch. Die Wolken zogen, von einem leichten, warmen Wind getrieben, auseinander. Dahinter sah man den blauen Himmel. Und ich sah noch etwas. Ein rot-gelbes Blitzen. Wie ein großer Stein, der auf uns zu raste und einen regenbogenartigen Schweif hinter sich her zog. Für Sekunden wusste ich, was mir die alte Frau sagen wollte.

Dann strahlte die Sonne zwischen den Wolkenfetzen hervor. Und mit einem Mal war es vorbei! Es wurde wieder warm und die Wolken lösten sich schlagartig auf.

Die Schüler sahen sich verdutzt an, redeten aber auf der Stelle weiter, als wäre nichts passiert. Neben mir ertönte ein lautes Lachen. Ich drehte mich um. Die alte Frau war verschwunden. Statt dessen saß dort wieder Steffi und blickte mich an. Sie kicherte und hatte vermutlich gerade einen Witz erzählt.

Ich fuhr mir durch die Haare. Mein Kopfweh war wie weggeblasen. Ich war nicht mehr krank. Mit einem Mal fühlte ich mich von der Heiterkeit angesteckt und lachte los.

Plötzlich hielt ich inne. "Hey, Steff! Du, wo ist denn die alte Dame hin, die vorhin neben mir gesessen ist? Du musst sie doch gesehen haben!"

Steffi blickte mich verdutzt an. "Bist du noch ganz richtig im Kopf? Hier bin immer nur ich gesessen! Hier saß nie jemand anders!"

Christine Weber, 13 Jahre, aus Ohlsdorf (Oberösterreich)


© DER STANDARD, 16. November 1999