DER STANDARD
Dienstag, 30. Oktober 2001 - Bildung


Nachwuchsliteraten: Der Siegertext

Zum Thema "Fremd" machten sich 120 Jugendliche beim diesjährigen Literaturwettbewerb der Literaturwerkstatt Graz Gedanken. Die
Siegertexte werden hier gekürzt veröffentlicht. Den Anfang macht der erste Preis.



Stefanie Panzenböck*

"Ich geh aufs Klo", sagte sie und stand auf. Sie schob ihren Sessel zurück und versuchte zwischen den vielen ausgestreckten, überschlagenen und überkreuzten Beinen den Weg zur Tür zu finden. Niemand rückte zur Seite. Das Messing der Türschnalle glänzte. Bis auf ein paar fettige Fingerabdrücke. Manchmal strahlte es kurz auf.

"Tschuldigung." Sie war einem grünen Filzpatschenbesitzer auf den rechten Fuß gestiegen. Keine Reaktion. Es war heiß in diesem erdrückenden Raum. "Nett eingerichtet", würde man sagen. Großes dunkelblaues Sofa in der Ecke. Blau wirkt beruhigend. An allen drei Fenstern grüne Vorhänge. Eisblau und Krötengrün. Der Teppich war rötlich mit orangen und rosa Farbreflexen. Auflockerung. Kontrast.
Kalte Farben. Warme Farben. Beruhigende Farben. Aggressive Farben.

Die Farbflecken im Raum grinsten sie an. Das Blau schickte ihr Kälteblitze, das Grün würde ihr am liebsten ins Gesicht springen. Sie räusperte sich. Zwinkerte nervös. Sie schwitzte, spürte die nassen Flecken unter ihren Achseln immer größer werden. Die Kälteblitze ließen sie gleichzeitig frösteln. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Alle kurzärmelig. So viel durcheinandergeworfene Körper. Bewegten die sich überhaupt?

Ein kurzer Blick nach oben. Die lachten. Die saßen auf ihren Sesseln, dem Sofa oder auf irgendjemand anderem und lachten, während dieser Idiot vor ihnen Witze erzählte. Das Lachen war laut. Wieso war ihr das vorher nicht aufgefallen? Ihre Gedanken bewegten sich zu langsam. Sie hielt plötzlich inne. Der Gedanke vom lauten Lachen war noch nicht zu Ende gedacht. Lautes Lachen. Lautes Krachen. Lauter Krach. Laut sind die Sachen. Klar, die lachten ja.

Das Sofa, der Vorhang - grinsten sie nicht nur an, sondern lachten auch noch. Und diese verwinkelten Figuren auf den Sesseln grölten mit. Grölten im Rhythmus. Die Türschnalle blinkte. Sie griff nach ihr, rutschte ab. Stieß die Leute, die vor der geschlossenen Tür saßen, mit den Füßen. "Weg da, weg, ich muss kotzen." Alle wurden leise hinter ihr. Sie drehte sich um. Nur keine Aufmerksamkeit erregen, nur nicht. Der Idiot war auch leise. Und sein Gesicht war rot. Auch leicht rosa und orange wie der Teppich. Als hätte sein Gesicht sich gerade übergeben. Er schnappte nach Luft. Das Messing blinkte.

Sie stürzte hinaus. Stille. Der Boden war kalt, auf dem sie hingefallen war. Die Tür hatten die hinter der Tür wieder zugeschlagen. Wer waren diese Leute? Sollte sie sie wirklich einmal gekannt haben? An die Gesichter konnte sie sich noch vage erinnern.
Sie würde sich die Blase verkühlen, wenn sie hier noch länger liegen blieb. Nur nicht bewegen, nur nicht wirklich übergeben. Sie robbte ein Stück nach vor. Da hinten war das Klo. Der Boden machte komische Geräusche. Mochte ihre Berührungen auch nicht. Wer wollte sie noch berühren? Wen wollte sie jetzt noch berühren? Die Zeit hatte sich hier nicht weitergedreht. Oder hatte sie die Zeit zu schnell weitergedreht? Die lachten wieder. Hatten die vor einem Jahr nicht auch gelacht? Anders gelacht? Jetzt grölten sie mit dem Sofa um die Wette. Und der Idiot? Hatte sie ihn vor einem Jahr nicht auch zum Abschied sogar länger umarmt als die anderen? Briefe hatte sie keine bekommen. Aber sie wollte auch keine schreiben. Wollte die Sprache verlernen. Vielleicht auch die Schrift.

Die neue Sprache war fließender, das neue Lachen melodisch. Es passte nicht hier her. Sie passte nicht hier her. Die saßen schon übereinander, die hatten keinen Platz mehr für sie. In ihrem Mund sammelte sich Speichel. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und stand auf. Sie kehrte dem Klo den Rücken zu und öffnete die Tür zu den anderen. Sie kam gerade rechtzeitig, um sich gemeinsam mit dem Teppich zu übergeben.

Die anderen waren plötzlich ganz still. Sie umklammerte die Türschnalle. Die Kröte, die sich bis jetzt unter dem Eis versteckt hatte, sprang ihr mitten ins Gesicht.

*Die Autorin (17) lebt in Judendorf-Straßengel (Stmk.).



© DER STANDARD, 30. Oktober 2001