DER STANDARD
Dienstag, 4. Juli 2000, Seite 90 – Bildung


Die Sieger des Wettbewerbes der Jugend-Literatur-Werkstatt Graz gemeinsam mit dem Standard

Die Enge verharrt demütig

Am 25. Juni fand die Preisverleihung des diesjährigen Wettbewerbes der Literaturwerkstatt Graz gemeinsam mit dem Standard statt. Statt eines ersten wurden diesmal zwei zweite Plätze vergeben. Im Folgenden der Text von Eva Grassl und ein Auszug aus der Arbeit von Alexander Prantner.

Die Enge duckte sich an den schachtelförmigen Gebäuden vorbei. Mattschwarz schweigend blockte der Nachthimmel das Licht der Laternen-Straßenmonde ab und drosch es auf die weißen Zebrastreifen. Kalter Asphalt warf ihr seinen Buckel entgegen, sobald ihre Schritte in die Verschwiegenheit stoben. Die Enge hastete weiter durch den Stadtflur, an ihren Seiten kletterten Hochhäuser hinauf, die späte Zeit ließ die Umrisse nach oben hin ausbleichen.

"Es ist seltsam", wunderte sich die Enge, "dass keine Autos fahren. Die Ampeln haben schon ihr oranges Zyklopenauge angesteckt."

Dann brach die monoton herlaufende Häuserwand ab und schwenkte in eine ruhige Seitengasse. Über dem Eingang der Enge wachte listig wie ein Glühwürmchen eine kleine Lampe. Man konnte die Namensschilder an den Klingelknöpfen entziffern, die junge Frau musterte Papierstreifen und Buchstaben, während sie den Schlüsselbund in der Manteltasche umtastete. Im Grau spitzten sich die Schatten, trieben die derben Ecken ineinander und verdichteten die amorphen Körper.

Tagtodstadt und Mobile

"Origami, Faltfiguren", sang die Enge, "Tagtodstadt und Mobile". Das Schloss knackte, als der Schlüsselhals einbrach, als die Enge das Handgelenk drehte, als man die Luft vor Kälte nicht riechen konnte. Die Enge schmiegte sich durch den aufklaffenden Spalt, kurz bevor die Tür knackend zuschwang und ihn wieder hinausdrängte. Treppe wandelte, Stufen stiegen, sie folgte mit den Blicken dem Drehen, den Kurven, dem Reigen. Ihr Kopf sperrte hilflos, gehindert vom staunenden Körper. Das Ende jener Straße lief ohne ihr Sehen aus.

Die Enge sprach anmutig: "Du denkst, Treppe, an deine Macht. Ich werde deine Gesetze stoßen und dich zum Weinen bringen. Ich werde die Augen schließen, vorwärts eilen, du musst meinen unwissenden Füßen die Brücke bauen. Vielleicht stirbst du vor Erschöpfung unter mir."

Lächelnd langsam erblindete sie schützend, war schnell und leicht. Die Knie bogen das Bein wie die Rechtecke, die sie erklimmen halfen. Die Enge lief, mutig, naiv, glücklich, gleich einer nicht erwiderten Liebe. Strich die Farbe ihres Hirnes glatt in die Lider. Alles war ruhig, sie absorbierte die Bewegung hier. Ängstlich wollte die nahende Mauer der dünnen, zerbrechenden Membran weichen, als die Enge rasend nahte - und stehenblieb. Brauchte Minuten, bevor sie ihren eigenen Blick ertragen konnte. Starrte in die Luft, die Decke, weil ihr die Treppe Scham einflößte, beugte dann aber ehrlich ihr Sehen.

Die scheue Wand

"Du hast Recht", bekannte die Enge. "Ich bin müde." Stieg zart weiter. Beruhigte mit einem ausgestreckten Arm und streicheln wollenden Fingern die scheue Wand. Kam vor jener zu liegen, auf dem obersten Absatz. Zog die Knie an die Brust, bedeckte mit den Handflächen das Gesicht, verharrte so ewig und demütig.

Eva Grassl (15), Kaindorf bei Hartberg, gewann mit "Die Enge" den zweiten Platz und damit die Teilnahme an der "Schreibzeit Bruck", einer internationalen Werkstattwoche für Jugendliche.


© DER STANDARD, 4. Juli 2000